Die Morgenlandfahrt

Zum Verständnis der nachfolgenden Analyse wird die Kenntnis der Erzählung "Morgenlandfahrt" von Hermann Hesse empfohlen.
Wikipedia gibt eine Zusammenfassung.

Quellen sind bei Adam Ritzhaupt und Lisa Tetzner zu finden.


Wer war Leo?

Hesses Morgenlandfahrer sind "ein Bund". Wir wissen heute, was es tatsächlich mit diesem Bund auf sich hatte ... Hesse hätte auch den geographischen Ort benennen können, an dem sich diese Elite traf: ein kleiner Ort in der Nähe von Ascona in der Schweiz. Eine Siedlung auf einem Berg, den sie Monte della Verità nannten. Der Gründer war ein Mann namens Gusto Gräser, ein sehr seltsamer Mann aus Siebenbürgen, 1879 geboren, Maler, Dichter, Wanderer, Bettler, Pazifist, Kriegsdienstverweigerer, religiöser Sozialist ... Hesse war eine Weile dort zu Gast, betrachtete Gräser als eine Art Guru ... Dieser Gräser ist sicher Pate gestanden zu mehreren Guru-Figuren in Hesses Werk.

Luise Rinser in 'Hermann Hesse und die Religion', S. 29f.


Ebenso wie der Buddhismus konnte auch der Taoismus zur innenpolitischen Waffe werden. In deutlichem Bezug auf ihn verkündet in der Morgenlandfahrt der Seelenführer und demütige "Diener" Leo "das Gesetz vom Dienen": "Was lange leben will, muß dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lange." Leo wird zum Sprachrohr der Weisheit des Laotse. Leo ist aber auch nach dem lebenden Vorbild des Alternativen Gusto Gräser geformt. Asien und Alternativkultur verschmelzen hier in einer Person; Hesse bezeugt es. (357)

Es wird ja meist übersehen, daß es sich hier um eine Beschreibung der deutschen Alternativkultur der ersten Nachkriegsjahre handelt. Friedrich Muck-Lambertys tanzender Zug durch Thüringen taucht darin ebenso auf wie die Siedlungskommune Karl Raichles und Theodor Pliviers im schwäbischen Urach und - in der Figur des Leo - der Laotses Weisheit verkündende Wanderprediger Gusto Gräser. (353)

Ulrich Linse: Asien als Alternative?

In: Religionswissenschaft u. Kulturkritik, S. 357 u. 353



Die prätentiösen Reisen Keyserlings und Ossendowskis entsprachen Hesses Neigungen und Bestrebungen weniger als der legendäre Zug einer Gruppe idealistischer und ekstatischer junger Reformer, die im Jahre 1920 durch Bayern und Thüringen wanderten, um Gusto Gräsers Evangelium von Natur, Liebe, Freude und Selbstverwirklichung zu verbreiten. ... Wenn Hesse auch selbst nicht an der von Gräser inspirierten Ekstase von 1920 teilnahm, so bewegten ihn die zahlreichen Berichte über diesen "Kinderkreuzzug" doch tief und hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck in seinem Gedächtnis. Seine Erinnerung an Willkommen bietende Menschenscharen, fröhliche Prozessionen, blumengefüllte Kirchen und gemeinschaftliches Singen und Tanzen, was alles für den Advent eines tausendjährigen Reiches Christi sprach, wurden Stoff für seine imaginäre Reise in eine idealere Welt.

Joseph Mileck: H ermann Hesse. Dichter Sucher Bekenner, S. 226


Hesse's later work is haunted by images of world-renouncers, like the Buddha or the Yogi in Magister Ludi, religious heroes whom his heroes must renounce. ... In Journey to the East (1947) the pilgrimage Hesse describes sounds like the Zug der Neuen Schar or other of Gräser's pilgrimages. It had been called by outsiders a Children's Crusade; but it had had successes, including the "surrender of the Tessin mountain village ..." Moreover, the narrator had wanted to write about it, and he is brought to judgement for his presumptuous wish. He writes a twenty page letter of grievances, remorse, and entreaty - the self-accusation of a League deserter, we are told. Sentence is passed upon him by a man who had seemed to be only a porter, a man who walks in sandals and open-shirted and bare-headed, who turns out to be the secret president of the League, and to whom the narrator submits. This man must in some sense represent Gräser.

Martin Green: Mountain of Truth, S. 115


,Die Morgenlandfahrt’

Hermann Hesses Geheimschrift

Über keine andere Erzählung Hesses ist so viel gerätselt worden wie über seine 'Morgenlandfahrt' und darin über keine andere Gestalt so viel wie über die des Bundesdieners Leo. Wer war Leo? An welche Gestalt in Hesses Leben erinnert er uns? An welche Ereignisse? Sehen wir zu:

H. H. ist vom Bunde abgefallen, "vor zehn oder mehr Jahren" (GW VIII, 359), also, da das Buch 1930/31 geschrieben wurde, etwa um das Jahr 1919: Das ist die Zeit der Trennung Hesses von Gusto Gräser. In dessen Zuflucht auf dem Weinberg von Ascona hatte er sich in den Kriegsjahren einem „Bund und Orden“ angehörig gefühlt, dem „Bund vom Monte Verità“. Nach dem Endes Krieges hatte er sich von Gräser, dem Urbild seines „Demian“, zurückgezogen.

H. H. hat sich "als Bundesbruder ... unkenntlich gemacht" (381). Er ist "ein Davongelaufener, untreu Gewordener, ein Deserteur" (378). Er hat den Glauben an den Bund verloren. Aber dadurch ist er in eine heillose "Öde, Nüchternheit und kahle Verzweiflung" (376) gestürzt. Dem Selbstmord nahe, sucht er sich das Leben zu retten, indem er die Geschichte seiner Fahrten mit Leo niederschreibt, seiner "Morgen-landfahrt".

Hesse hatte den Roman ‚Demian’ unter Pseudonym veröffentlicht und die Flugschrift ‚Zarathustras Wiederkehr’, die ebenfalls seinen Freund und Meister meinte, anonym herausgegeben und sich dadurch als Bundesbruder des gerade in diesen Jahren verfolgten und mehrmals eingekerkerten Gräser unkenntlich gemacht. Seine Verzweiflung und seine bitteren Selbstanklagen der Steppenwolf-Zeit, die ihn bis zum Selbstmordversuch führten, sind bekannt.

Hesses Leo ist schlank, rotbäckig gesund, einfach und natürlich, von gewinnend fröhlicher Art, hat einen spielerischen, elastischen Gang, geht in Sandalen aus Seilgeflecht, im offenen Hemd, mit bloßem Kopf.

Gusto Gräser war als „der lachende Siebenbürger“ bekannt, ging in Sandalen aus Seilgeflecht … usw.


Gusto Gräser mit Tochter Trudel

Er trägt einen Leinensack, ernährt sich von getrockneten Früchten, hat eine enge Beziehung zu Tieren und ist überhaupt sehr naturverbunden.

Gräser mit Leinentasche. Warum trägt er eine Tasche aus Leinen? Weil er Leder vermeiden, am Töten von Tieren nicht mitschuldig werden will. Aus dem selben Grund ernährt er sich von Früchten.

Leo, der Diener des Bundes, ist einer, der die Lasten der andern trägt. Gräser zeichnet sich als Lasträger.

Leo hält nichts vom Herrschenwollen, predigt das Gesetz vom Dienen. Gräser bezeichnet sich als Diener und lehrt die Freiheit des Dienens.

Leo sieht das Leben als Spiel. Gräser sieht sich als Spieler und lockt zum Spielen.


Leo mahnt zu Geduld, Ehrfurcht und Schweigen. So tut Gräser.




Leo will die Sprachen der Vögel lernen. Gräser ahmt in seinen Gedichten das Singen der Vögel nach.

Leo ist vielseitig tätig, als Kräuterkundiger und auch als Hundedresseur, er ist ein Liebhaber und Freund dieser Tiere. Gräser zeichnet Hunde und schreibt Gedichte auf Hunde.

Leo ist ein Schatzsucher des Tao. Gräser dichtet das ‚Tao Te King’ von Laotse nach und übersendet sein Manuskript 1919 an Hesse.

Leo gehört immer zum Bund, ist immer auf der Fahrt, ist auch in den letzten zehn Jahren der gleiche geblieben – im Unterschied zu H. H., der zwar früher mit seiner Geige vor Leo gespielt hat wie David vor Saul, inzwischen aber seine Geige verkauft und manche richtige Gemeinheiten begangen hat, dafür aber sehr berühmt geworden ist.

Was in Hesses Erzählung dem Leo zugeschrieben wird, trifft Wort für Wort auf Gräser zu. Leo steht für Gusto Gräser, den TAO-Dichter, den Diener und Lastträger, den heimlichen Obersten des Bundes vom Monte Verità.

Hesse verarbeitet in einem Akt der Buße seine innere Geschichte seit etwa 1919. Die Anspielungen auf seine Erlebnisse mit Schweizer Freunden dienen dabei mehr der Tarnung und Verschleierung. Die wirkliche "Morgenlandfahrt", um die es Hesse geht oder vielmehr: auf die er zur Verbildlichung des Bundes zurückgreift, jener Pilgerzug einer "Tanzgemeinde", die eine Revolution der Seele predigt, mit Tänzen und Spielen in Kirchen auftritt, Scharen von singenden und tanzenden Kindern hinter sich her zieht, so dass die Leute von einem "Kinderkreuzzug" sprechen und sich an die Wiedertäufer erinnert fühlen – dieser Wanderzug hat sich in Wirklichkeit im Sommer 1920 in Thüringen abgespielt und war inspiriert und begleitet worden von Gusto Gräser. Indem Hesse in seiner Erzählung Dichter und Dichterfiguren verschiedener Zeiten auftreten lässt, hebt er die Wanderfahrt von 1920 in die Sphäre mythischer Zeitlosigkeit. Was den damaligen Zeugen schon märchenhaft erschien, als das Wunder eines “Kreuzzugs der Liebe“, das erzählt er als Märchen, als Legende, als dem Verstand nicht fassbare Wundergeschichte.


Die Neue Schar von Muck Lamberty im Wald, 1920
 
 
Flugblatt der Neuen Schar mit fünf Gedichten von Gusto Gräser

Hesse hatte sich zwar nicht beteiligt, aber durch seine Freunde Lisa Tetzner und Kurt Kläber, die teilgenommen hatten, und durch Presseberichte hatte er sich unterrichten können. Der Zug der Wanderer durch Oberschwaben nach Spaichendorf (Spaichingen) und in die Nähe von Urach bezieht sich ebenfalls auf Gusto Gräser, der 1919 diesen Weg gegangen war.


Die Landkommune am Grünen Weg bei Urach, gegründet 1919,
in der auch Gusto Gräser zu Gast war.

Es geht H.H. um Wiederaufnahme in den Bund. Hesses Erzählung ist zu verstehen als ein langer offener Brief an seinen Freund, der sich im Bilde des Leo sehr wohl erkennen konnte – und auch erkannt hat (denn er machte sich Auszüge aus dem Buch). Leo: „Gerade das ist es ja, das Leben, wenn es schön und glücklich ist, ein Spiel!“

Hesses Geschichte ist im Kern eine Beichte und eine Bitte um Wiederannahme, bewegt von dem Wunsch nach neuer Verschmelzung mit dem einstigen Meister. Dass Gräser diese Bitte erhört hätte, ist allerdings unwahrscheinlich. Hesse hatte zwar gebeichtet, aber wiederum sich nicht als Bundesbruder zu erkennen gegeben.

Mit der 'Morgenlandfahrt' hat Hesse eine Gräser-Legende geschrieben. Die Fahrt ins Morgenland ist ihm Symbol für die Suche nach der Heimat der Seele. Diese Heimat ist offenbar dort, wo nicht gerechnet wird, wo der Verstand fallen gelassen worden ist. Grundsatz des Bundes ist: "niemals zu rechnen, niemals (s)ich durch Vernunftgründe verblüffen zu lassen, stets den Glauben stärker zu wissen als die sogenannte Wirklichkeit" (351). Die realen Taten dieser Wanderer um Gräser, ihre Umzüge und Blumenfeste, gelten in der Öffentlichkeit als "Narrenzug", "Kinderkreuzzug" (351) oder als bloße Sagengeschehnisse.


Hesses Hauptquelle: die Flugschrift von Adam Ritzhaupt. Nachdem die Schar durch Verdächtigungen „in Verruf geriet“ (Hesse), wurde die Schrift aus dem Archiv der Jugendbewegung entfernt. „Mit den Mitteln des Verbotes, des Totschweigens, des Spottes“ wurde das getilgt, was Hesse in seiner Generation das Wichtigste schien. Hesses Erzählung ist auch der Versuch einer Rehabilitation dieses lange totgeschwiegenen und verleumdeten „Kreuzzugs der Liebe“, der Versuch einer dichterischen Rettung. Es ist „ein geheimes Deutschland der Poesie“ (Rüdiger Safranski), das er uns bewahrt1.

Gräser ist der Führer dieser Suchenden, wird aber von gewöhnlichen Augen nur als Diener und Lastenträger gesehen. In Wirklichkeit trägt er in seinem Rucksack den geheimen Bundesbrief, "in der nur ihm allein bekannten Urbilderschrift abgefasst" (GW VIII, 347), eine Anspielung auf Gräsers Urbild-Dichtung und ihre nicht leicht zu entschlüsselnde Symbolsprache.

Dieser Brief schien zuerst verloren gegangen, und als er ihn in Händen hält, kann H.H. diese "geheime Adeptensprache" (374) nicht entziffern oder nicht verstehen. Er kann deshalb – und weil er dazuhin dem Bunde untreu geworden ist – die Geschichte des Bundes nicht schreiben. Ihm bleibt nur die liebende Verschmelzung mit dem Freund.



1 Nach der Auflösung der Schar wurde Gräser in Naumburg verhaftet und in das erste, offiziell so bezeichnete „Konzentrationslager“ in Cottbus-Sielow gesteckt, ein Abschiebelager für unerwünschte Ausländer, das hauptsächlich für sogenannte „Ostjuden“ bestimmt war. Mit ihnen wurde auch Gräser aus dem Deutschen Reich ausgewiesen.


I Der Bund der Morgenlandfahrer

1. Der Bund

Hesse sah schon 1907 die Gemeinschaft der Monteveritaner als einen "Orden", "eine kleine Gemeinde von Zukünftigen", "eine heimliche Gesellschaft edel strebender Menschen". 1916/17 hatte er auf dem Monte Verità seine "Aufnahme in den Bund" erlebt, in den "Orden der Persönlichkeit", den er in seinem Freund Gräser-Demian verkörpert fand. 1919 hatte er vom Bund und vom Meister Abschied genommen ('Siddharta'). Nach zehnjähriger Pause nimmt er jetzt den Bund- und Ordensgedanken wieder auf.

2. Morgenlandfahrer

Nach Hesse war Gräser der Meinung, dass der Weg des Menschen in seine "Heimat im Schosse Asiens" zurückführen werde ('Der Weltverbesserer').

3. Die Morgenlandfahrer sind Wanderer – wie Gräser.

4. Die Morgenlandfahrer sind auf dem Weg zur "Heimat der Seele" – Gräser ist, nach seinem vermutlich von Hesse finanzierten Flugblatt von 1917, "unterwegs in die Heimat des Menschseins".

5. Diese Heimat ist ein "Überall und Nirgends" –

Wandern, wohin? – Hier wandelwohnen!

Hier wo ich tief walleweil, hier treffen sich alle die Zonen.

(GG)


II Die Züge und Treffen der Morgenlandfahrer

A Der Zug durch Schwaben

1. Oberschwaben

Im Spätsommer 1919 durchquert Gräser, vom Bodensee her kommend, Oberschwaben in Richtung Schwäbische Alb.

2. Spaichendorf

Er will seinen Freund Alfred Daniel in Balingen besuchen. Der Weg führt über Spaichingen.

3. Nähe von Urach

In der Nähe von Urach entsteht zu dieser Zeit die 'Kommune am Grünen Weg' (mit Theodor Plievier, Gregor Gog und Karl Raichle), die Gräser aufsucht.

4. Kronenwächter

In Urach trifft er mit der Christ-Revolutionären Bewegung von Karl Strünckmann zusammen, der eine europäische Universalmonarchie anstrebt (zu der auch Sizilien gehört hätte).

5. Verweigerung der Gefolgschaft

Während mehrere seiner Freunde sich den Christ-Revolutionären anschliessen, verweigert Gräser die Gefolgschaft.

6. Weg nach Bopfingen

Im Schwäbischen Wald und auf der Ostalb hatten Freunde von Gräser mehrere Siedlungen gegründet. Sie waren das Ziel seiner Wanderung.

7. Ein Geharnischter hält die Wanderer auf

Gräser wurde aus Württemberg ausgewiesen. Ein "Geharnischter", d. h. ein Polizist, wird ihn angehalten und festgenommen haben.

II B Der Zug der Neuen Schar durch Thüringen


Die Morgenlandfahrer leben:

Die von Gräser inspirierten Teilnehmer am Zug der Neuen Schar leben:

1.

als Pilger -

als Wanderer;

2.

feiern in Kapellen -

feiern in Kirchen, wo ihr Anführer Muck Lamberty Ansprachen von den Kanzeln hält. So im Erfurter Dom;

3.

schmücken die Kapellen mit Blumen -

wie die Neue Schar, z. B. in Erfurt;

4.

ehren sie mit Liedern und Musik -

wie die Neue Schar, die im Erfurter Dom Marien- und Volkslieder anstimmt;

5.

werden von den Ungläubigen verspottet und gestört -

wie die Neue Schar von den Deutschnationalen, den Kommunisten und der katholischen Kirche;

6.

werden aber auch von Priestern eingeladen -

wie die Schar von Adam Ritzhaupt, Emil Fuchs und anderen Pfarrern.

7.

die Kinder schliessen sich ihnen an und lernen ihre Lieder -

so wie die Neue Schar vor allem mit Kindern singt, tanzt und spielt;

8.

Jünglinge wollen in den Bund aufgenommen werden -

die Neue Schar bildet in allen Städten, die sie durchzieht, Nachfolgescharen und Arbeits-gruppen religiös-sozialer Richtung (z. B. mit dem Theologen Emil Fuchs);

9.

Begeisterte begleiten sie auf ihrem Weg -

"Zu Tausenden gaben sie ihm – Muck – das Geleit bis vor die Tore der Stadt" (Lisa Tetzner);

10.

und sehen sie nur mit Tränen weiterziehen -

"Weinend haben viele Abschied genommen" (Adam Ritzhaupt).

11.

Es handelt sich um eine "Tanzgemeinde" -

"Ganz Thüringen tanzt ... Nicht einzelne Personen, sondern Tausende auf einem Platz" (Eugen Diederichs);

12.

eine "wiedertäuferische Kampfgruppe" -

"Seit den Tagen der Wiedertäufer hatte man dergleichen nicht mehr gesehen" (Walter Laqueur);

13.

die einen Vorstoss unternimmt in das "Reich einer kommenden Psychokratie" -

"Revolution der Seele"(Lisa Tetzner) und "Reich der Seele" predigte die Schar, wie ihr Inspirator Gusto Gräser. In ihren Versammlungen wurde aus Hesses Zarathustra-Schrift vorgetragen (Adam Ritzhaupt).

14.

Die Skeptiker sprechen von einem "Kinderkreuzzug" oder "Narrenzug" -

andere von einem "Kreuzzug der Fröhlichkeit" (Werner Helwig), einem "heiligen Kreuzzug der Liebe" (Tetzner).

15.

Inzwischen aber (1929) ist diese "Erhebung der Seele" vergessen und "ihr Gedächtnis mit einem richtigen Tabu belegt". -

Nach der polizeilichen Vertreibung der Schar wurden ihre Schriften aus dem Archiv der Jugendbewegung entfernt; Werner Helwig spricht noch 1960 von einem "Tabu" in bezug auf die Neue Schar. (Inzwischen sind ihr mehrere Publikationen und auf der Leuchtenburg in Thüringen eine eigene Ausstellung gewidmet. )

16.

H.H. will mit seinen Aufzeichnunen zu ihrer Wiederentdeckung beitragen. -

Er stützt sich dabei offensichtlich auf die Flugschrift von Adam Ritzhaupt, vermutlich auch auf die Berichte seiner Freunde Kurt Kläber und Lisa Tetzner, die am Zug der Neuen Schar teilgenommen hatten und jetzt in seiner Nähe wohnten: in Carona.

II C Der Vagabundenkongress in Stuttgart

1. Es gibt Treffen des Bundesheeres, "Heerlager von Hunderten, ja von Tausenden". – Der Vagabundenkongress in Stuttgart von Pfingsten 1929, an dem unter Hunderten auch Gräser teilnahm und als Sprecher auftrat, war für Hesse offenbar Zeichen und Mahnung, dass der totgeglaubte Bund noch am Leben sei. Im Sommer beginnt er mit der Konzeption der 'Morgenlandfahrt', im Herbst fährt er nach Stuttgart, um sich näher über den plötzlich wieder aufgetauchten "Bund" zu informieren.

2. Von seinem alten Freund Martin Lang, genannt Lukas, damals Lektor in Stuttgart, der den Kongress aus nächster Nähe beobachtet und Gusto Gräser bei sich empfangen hatte, konnte er Genaueres erfahren.

3. Der Kongress war eine Veranstaltung der von Gregor Gog begründeten 'Bruderschaft der Vagabunden'. Hesse, als Dichter der Vagabundage, war zur Teilnahme eingeladen worden, zusammen mit seinen literarischen "Tippelbrüdern" Knut Hamsun, Sinclair Lewis, Heinrich Lersch und anderen. Im Unterschied zu diesen, die entweder erschienen oder wenigstens Grussadressen schickten, war Hesse dem Treffen ferngeblieben und hatte auch kein Zeichen seiner Sympathie gegeben.

III. Leo – Gusto Gräser

III A Erscheinung und Lebensart

1. "Leo war unser Diener". – GG gibt vor Behörden als seinen Beruf an: "Diener".

2. Leo ist "gross" und "sehr schlank". – GG ist "lang und hager" (Penzoldt), von "hoher, schlanker, stattlicher Gestalt" (Johannes Schlaf 1909).

3. Leo ist "rotbäckig gesund". – GG ist "rotbäckig" (Schlaf 1909), zeigt "schöne Gesundheit" (Schwäbische Tagwacht), ein "gesundes, frisches, kräftiges Aussehen" (Schlaf 1911), "ein rotwangig gebräuntes Gesicht" (Schlaf 1922). "Seine braunen Augen waren klar und strahlten Gesundheit und fröhliche Lebenskraft aus" (Schlaf 1912).

4. Leo ist "fröhlich", "freundlich", "gewinnend". – GG ist "fröhlich" (Daniel), strahlt "mit weiten, feurig freundlichen Augen" (Schlaf 1922) "fröhliche Lebenskraft aus" (Schlaf 1912).

5. Leo ist "einfach und natürlich". – GG lebt und lehrt das einfache, natürliche Leben. "Drum lasst uns einfach leben, ihr Gesellen ... ".

6. Sein Gang ist "leicht, spielerisch, elastisch". – "Dann ging er. Leichtfüssig, elastisch" (Schlaf 1912).

7. Leo geht in Sandalen aus Seilgeflecht. – "Die Sandalen, seiner (Gusto Gräsers) Erfindung und Mache, sind aus Seilgeflecht" (Grohmann).

8. Geht im offenen Hemd, mit blossem Kopf – wie GG,

9. trägt einen Leinensack – wie GG,

10. ist Gepäckträger, Lastenträger. – GG zeichnet sich als Lastenträger.

11. Leo ernährt sich von getrockneten Früchten. – "Früchtemahl, so gelb und rot auf dem Hüttentische ... " (GG),

12. lebt in Zürich und Basel – wo auch GG zwischen 1922 und 1930 öfters sich aufhält –

13. und steht sozial auf nahezu unterster Stufe – wie GG.

14. Tiere und besonders Hunde hängen ihm an.- GG bedichtet Hunde und andere Tiere.

15. Leo will die Sprache der Vögel verstehen lernn. – GG ahmt in seinen Gedichten Vogelstimmen nach.

16. Leo ist überhaupt sehr naturverbunden. – GG wird als "Naturmensch" bezeichnet.

III B Gedankenwelt

1. Leo: "Was herrschen will, das lebt nicht lange". – "Herrschen, das ist der Irrwahn des Menschen ... " (GG)

2. Leo lehrt das "Gesetz vom Dienen". – "Dienen ist Seligkeit!" – "Dienen ist Sieg!" – "Dienen ist Urgebot!" (GG)

3. Leo: "Gerade das ist es ja, das Leben, wenn es schön und glücklich ist: ein Spiel!" – "Wenn es uns glückt, das Leben, ist es ein Spiel, ein Spiel!" (GG)

4. Leo mahnt zu Geduld... – "Jah, nur Geduld walten lassen, heiliger Huld bewusst ... " (GG)

5. Leo mahnt zu Ehrfurcht... – "Ehrfurcht zum Selbst in dem geringsten Ding!" (GG)

6. Leo mahnt zum Schweigen. – "Aus Schweigen nur zweigt Freundeswort und –werk, aus Ruhn sein Tun." (GG)


III C Verhältnis zu H.H.

1. Leo gehört immer zum Bund, ist immer auf der Fahrt – wie Gräser, der auch nach 1919 seine Wanderungen und sein "Notwendwerk" fortsetzt.

2. Leo ist "in zehn Jahren der gleiche geblieben" – wie auch GG in seinem Auftreten und in seiner Gesinnung zwischen 1919 und 1929 sich treu geblieben war – im Unterschied zu H.H.

3. Leo hält H.H. vor, seine Geige verkauft zu haben. Er vergleicht ihn mit David, der in seiner Jugend vor Saul gesungen, dann aber manche richtigen Gemeinheiten begangen habe und sehr berühmt geworden sei. – In seiner Jugend hatte Hesse für Gräser "gesungen", dann aber... – war er sehr berühmt geworden.

IV H.H.

IV A Der Bund

1. H.H. hatte dem Bunde angehört. – In den Jahren 1916/17 hatte Hesse auf dem Monte Verità von Ascona seine "Aufnahme in den Bund" erlebt.

2. Er war Violinspieler gewesen. – In 'Demian' und 'Zarathustras Wiederkehr' aber auch in früheren Erzählungen und Legenden um 1907/8 hatte Hesse seine Kunst Gräser und dem Bunde gewidmet.

3. H.H. ist vor zehn Jahren – nach dem Tag von Morbio Inferiore – vom Bunde abgefallen. – Im Laufe der Jahre 1918/19/20 hat sich Hesse von Gräser zurückgezogen. Minderwertigkeitsgefühle (morbio inferiore) spielten dabei eine nicht unwesentliche Rolle.

IV B Der Abfall vom Bund: Morbio Inferiore

1. Am Tag von Morbio Inferiore, einem "blaugoldenen Oktobertag", war Leo verschwunden. – Nachdem sich seine Frau im Oktober 1918 in wildem Aufbegehren gegen ihren Mann nach Ascona geflüchtet hatte, suchte Hesse Trost und Hilfe auf dem Monte Verità. (Vgl. Gräsers Brief an Hesse vom 30. 12. 1918.) Aber Gräser war verschwunden. (Er sass in Zürich im Gefängnis.)

2. Einen ganzen Tag lang wird nach Leo gesucht, aber alle Nachforschungen bleiben vergeblich. – Hesse hinterlässt mehrere Mitteilungen ("Spuren") für Gräser auf dem Monte Verità, sodass angenommen werden darf, dass er einen ganzen Tag lang vergeblich auf das Wiederauftauchen Gräsers gewartet hat. 1)

3. Das Ereignis spielt sich in der Schlucht von Morbio Inferiore ab. – In Morbio Inferiore, einer Schlucht im Tessin, hatte Hesse 1920 Stunden quälenden Wartens durchlebt, während ein Freund seinen jüngsten Sohn aus den Händen der kranken Mutter zu befreien suchte. Dieses schmerzhafte Erlebnis verbindet sich assoziativ mit dem früher erlebten quälenden Warten auf Gusto Gräser. Quälend dürfte dieses Warten für Hesse auch deshalb gewesen sein, weil er sich seines inneren Rückzugs vom Freund bewusst war und darum dessen Ausbleiben als eine stillschweigende Verurteilung empfand.

4. Gepäckstücke sind verloren gegangen, werden nach und nach aber wieder gefunden. – Nach dem Ausbruch ihrer Krankheit war Frau Mia überstürzt aus Ascona abgereist. Ihr Gepäck war verloren gegangen, nach und nach aber auf verschiedenen Bahnstationen im Tessin wieder gefunden worden. Auch dieses Motiv weist nach Ascona und in den Herbst 1918.

5. Nur der Bundesbrief blieb "tatsächlich und endgültig" verloren. – Gräsers Tao-Dichtung und sein Gedichtband 'Winke zur Genesung unsres Lebens' (Untertitel: 'Denkblätter zur Mahnung an den Freund'), die er beide an Hesse gesandt hatte, sind in dessen Nachlass nicht erhalten geblieben – im Unterschied zu Gräsers Briefen. Verloren gegangen?

6. Im Tag von Morbio Inferiore verdichtet sich "vieles, was in Wirklichkeit erst viel später erlebt wurde". – Hesses Abfall und Fahnenflucht vom Bunde mit Gräser, der an jenem Oktobertag begann, war ein Prozess, der sich über Jahre hinzog.

IV C Die Rückkehr zum Bund

1. H. H. ist nach seiner Abkehr vom Bund enttäuscht, verzweifelt, mtlos geworden. – HH's Höllenfahrt der Steppenwolfzeit ist bekannt. Im Dezember 1929 hatte seine Verfassung einen Tiefstand erreicht: Er ist dem Erblinden nahe, muss wochenlang im verdunkelten Zimmer liegen. Grosse Schmerzen, Angstzustände und Depressionen. Unter dem Druck dieser Notsituation scheint sich seine innere Umkehr vollzogen zu haben.

2. H.H. will die Bundesgeschichte schreiben und dadurch seinem Leben wieder einen Sinn geben. – In die 'Morgenlandfahrt' hat Hesse tatsächlich eine umrisshafte Geschichte des Bundes einverwoben.

3. Er kann jedoch das Bundesgeheimnis nicht mitteilen und muss sich deshalb auf das von ihm persönlich Erlebte beschränken. -– In der Tat kann Hesse die Gräsersche Schau aus eigener Kraft nicht nachvollziehen. In 'Narziss und Goldmund' hatte er einen wesentlichen Aspekt von dessen Mythos, das Thema der Urmutter oder Grossen Mutter, zu gestalten versucht, war aber daran gescheitert. Deshalb ist er jetzt gezwungen, sich auf das ganz Persönliche seiner Gräserbeziehung zu beschränken.

4. H.H. sucht den befreundeten Lukasd auf, um Leos Aufenthalt zu erfahren. – Hesse fährt im Herbst 1929 nach Stuttgart, um seinen Freund Martin Lang, genannt "Lukas", über Gräsers Verbleib zu befragen.

5. Lukas kann H.H. die Anschrift von Leo geben. – Lang konnte Hesse die Anschrift von Gräser geben. Er hatte diesem nach mehreren Gesprächen – vermutlich anlässlich des Vagabundenkongresses an Pfingsten 1929 in Stuttgart – einen Brief geschrieben, kannte also dessen Adresse.

6. H.H. trifft Leo in Zürich oder aber – nach der Analyse von Mileck (S. 226f.) – in Basel. Gräser hat sich nach 1920 mehrmals in Basel und Zürich aufgehalten. Von 1922 bis 1924 lebte er ständig in der Schweiz.

7. H.H. schreibt einen zwanzigseitigen Brief der Reue, Selbstanklage und flehentlichen Bitte an Leo. – Die ganze 'Morgenlandfahrt' ist ein solcher langer Brief an Gräser, ein Brief der Reue, Selbstanklage und der flehentlichen Bitte um Wiederannahme. Der Freund hat diesen Brief auch gelesen und mit Sicherheit zu deuten verstanden, wie Auszüge in seinem Nachlass belegen.

8. Leo will ihn jedoch nicht wiedererkennen, da sich H.H. als Bundesbruder unkenntlich gemacht habe. – Hesse hatte sich tatsächlich als Gräserfreund unekenntlich gemacht und tut es auch jetzt wieder – der Öffentlichkeit gegenüber – in der 'Morgenlandfahrt'. Dieser Text war für den eigentlich gemeinten Empfänger sehr wohl zu verstehen, nicht aber für Aussenstehende.

9. H.H. verströmt sich in liebender Hingabe an Leo. – Sehnsucht nach dem Freund und reuige Rückkehr zum Meister ist auch das Grundmotiv der Lebensläufe im 'Glasperlenspiel'.

10. "Er musste wachsen, ich musste abnehmen." – Mit dem Wort des Vorläufers Johannes aus dem Evangelium verdeutlicht Hesse sein Verhältnis zu Gusto Gräser.


1) = Ob dieser Besuch mit dem Aufenthalt und der Erkrankung von Frau Mia zu tun hatte, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Er kann auch früher stattgefunden haben. Jedenfalls konnte Hesse den Freund nicht antreffen. Er wusste wohl nicht von dessen Verhaftung und muss nach ihm gesucht und auf ihn gewartet haben. Dafür sprechen die mehrfachen "Spuren", die er, laut Gräsers Brief, auf dem Berg hinterliess.

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Der Diener Leo in der Wüste Thebaїs

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In den Felsen von Arcegno

Auf seinem Lande haust er in einer malerischen Felsenspalte. Dort erblickte ich ausser einigen Decken auf dem Boden nichts einer menschlichen Spur ähnliches als einen kleinen Trog aus vierflachen Steinen gebildet. ... Er enthielt Obstkerne. Er hebt die bei seinen Obstmahlzeiten verbleibenden auf und verwendet sie bei Gelegenheit seiner Spaziergänge in der Umgebung: er streut sie aus am Wege und rechnet auf den Genuss und Vortheil, den die aus den Keimen wachsenden Obstbäume dem durstigen Wanderer am Wege bieten werden.“ So berichtet die erste Schrift über GustoGräser (Adolf Grohmann, 1904; S.27). Also: ein deutscher Jonny Appleseed.

Die Höhlung liegt zwischen zwei hausgrossen, gegeneinander geneigten Blöcken, knapp neben einer grossen Felsenwand, in einer vegetationsarmen rauhen Gegend ... Ein paar dicke, alte, verwitterte Edelkastanien mit ausgehöhlten Stämmen, nichts Lebendes als höchstens gelegentlich eine Ziege, die das spärliche Gras absucht“ (31). Es handelt sich um Hesses „thebaische Wüste“. „Ich lebe nackt und aufmerksam wie ein Hirsch in meinem Geklüfte,“ schreibt er 1907 in seinem Bericht ‚In den Felsen‘.


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Pagangrott

Die Sandalen, seiner Erfindung und Mache, sind aus Seil geflochten. Oder er trägt Holzschuhe von sehr zierlicher Form, die er, genau seinem Fusse angepasst, aushöhlt, mit einer kokett nach oben gerichteten Spitze“, erzählt Grohmann von Gusto Gräser (DieVegetarier-Ansiedelung im Tessin 28). „Seine Stoffschuhe hatten Sohlen aus Seilgeflecht“, schreibt Hesse (Morgenlandfahrt 360).


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Deutsches Monte Verità Archiv (DMA) Freudenstein


Bloßfüssig oder in Sandalen schreitet er dahin, ein Täschchen mit dichterische Ergüssen umgegürtet, einen Hirtenstab in der Hand“ (Ida Hofmann, 1906, S. 17). „Auf dünnen Sandalen oder Turnschuhen“ schreitet Leo in der ‚Morgenlandfahrt‘ dahin (Mlf 359), einen „leinenen Trägersack auf dem Rücken“ (Mlf 345).

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Leinentasche im DMA Freudenstein

In ihm trägt er „eine einzige Kostbarkeit“: den geheimnisvollen Bundesbrief,ein unschätzbar wichtiges und schlechterdings grundlegendes und unentbehrliches Dokument“ (Mlf 346). “Hitzige Auseinandersetzungen schlossen sich hieran, und weiterhin zeigte sich, daß auch über den Verbleib des Originals vielfache, einander durchaus widersprechende Meinungen herrschten“ (ebd.). Es befindet sich aber im Deutschen Monte Verità Archiv (DMA) in Freudenstein.