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Henri Oedenkoven
und
die Spaltung auf dem Monte Verità

Zusammenfassung:

Die Initiatoren der Liebeskommune Monte Verità, Gusto und Karl Gräser, wurden von dem Kapitalbesitzer Oedenkoven aus der gemeinsamen Unternehmung verdrängt. Nach Ablauf des ersten Jahres gab es zwei Monte Veritàs: die Oedenkovensche Naturheilanstalt als Privatunternehmen bürgerlicher Lebensreform einerseits und andrerseits das Obstbau- und Gartenanwesen der Gräsers als Freistatt für Empörer gegen das herrschende politische und kulturelle System. Da Oedenkoven für sein Sanatorium den Namen Monte Verità mit Beschlag belegt hat, sei die Gräsersche Unternehmung zur besseren Unterscheidung Monte Gioia oder Monte Utopia genannt.

Aus den Schriften von Ida Hofmann stammt die allgemein akzeptierte Legende, Oedenkoven sei der allein maßgebliche Erfinder und Betreiber des Monte Verità-Projekts gewesen. Leider liegt eine Darstellung von anderen Beteiligen nicht vor. Doch ergibt sich eine alternative Sicht allein schon aus der Tatsache, daß Gusto Gräser bereits einer Art von Landkommune angehört hatte, nämlich der Kolonie 'Humanitas' des Malers und Sozialreformers Diefenbach auf dem Himmelhof bei Wien. Er war also der einzige unter den Beteiligten, der schon Erfahrung in alternativer und kommunitärer Lebensweise gesammelt hatte. Daß er seine eigenen Vorstellungen von einer Liebeskommune im urchristlichen und zugleich lebensreformerischen Sinne mitbrachte und auf seinen Bruder übertrug, liegt auf der Hand, sollte sich auch im Verlauf des Unternehmens deutlich genug erweisen.

Tatsache ist also, daß sich zwei verschiedene Konzeptionen alternativer Gemeinschaft von Anfang an gegenüberstanden: die der Gräsers und die Oedenkovens. Aus eben diesem Grund und nicht nur aus persönlicher Abneigung versuchte Oedenkoven seinen Antipoden Gusto Gräser von Anfang an aus-zuschließen. Dies gelang ihm nicht, weil er auf die Mitarbeit und Beteiligung von Karl Gräser angewiesen war. Er allein mit der einzigen Anhängerin und Gesinnungsgenossin Ida Hofmann hätte eben keine Siedlung schaffen können. Das Unternehmen stand also von Beginn an auf einem oberflächlichen Kompromiß: jede der beiden Parteien war auf die andere angewiesen und jede hoffte, am Ende ihre eigene Konzeption durchsetzen zu können.

Bezüglich des Ortes für solch ein Projekt war man sich einig, daß es im Süden sein müßte, wo es warm war, schön war und viele Früchte gab. So trennte man sich und machte sich allein oder zu zweit, in Reformkleidern, nur mit Sandalen barfuß auf den Weg, um am Ufer eines oberitalienischen Sees ein Grundstück zu finden. Überall fielen sie wegen ihres Aussehens auf. Besonders Lotte Hattemer und Ida Hofmann, zwei Frauen allein, ohne Korsett, Hut und Handschuhe, mußten sich einige Belästigungen gefallen lassen. Je weiter sie nach Süden kamen, desto offener und aufgeschlossener wurden die Menschen.

In Ascona, einem Fischerdorf am Lago Maggiore, fanden die Gebrüder Gräser den geeigneten Ort.

Oedenkoven an die Macht

Nachdem das Gelände auf dem Weinberg von Ascona angekauft war, ließ sich Henri Oedenkoven notariell als einziger Besitzer eintragen. Und dies, obwohl alle fünf Siedlungsgenossen ihre Mittel in die Gemeinschaft eingebracht hatten und als gleichberechtigte Partner galten oder doch gelten sollten. Weil aber Gusto seinen Besitz ganz, Karl den seinen weitgehend verschenkt hatte, Lotte Hattemer ebenfalls wenig bemittelt war, hatte Oedenkoven (der von seinen millionen-schweren Eltern unterstützt wurde) von vornherein eine extreme finanzielle Übermacht, die er keineswegs, wie die Zukunft erweisen sollte, in brüderlicher Gemeinschaft zu teilen gedachte. Oedenkoven hatte sich dazuhin das juristische Fundament gesichert und zögerte nicht, davon Gebrauch zu machen.

Als erstes mußte der mißliebige Gusto verschwinden. Karl mochte sich für ihn einsetzen wie er wollte, Genosse Oedenkoven, der angeblich Gleiche unter Gleichen, machte von seinem Hausrecht Gebrauch.

Dabei blieb es nicht. Die Oedenkovens dachten keineswegs daran, sich pausenlos beim Aufbau der Hütten und Pflanzungen abzurackern. Schon nach wenigen Wochen leistet sich das Liebespaar einen Erholungsurlaub im bequemeren Milieu des Monte Trinità. Im Frühjahr verlassen sie die mitten im Aufbau befindliche Siedlung, um es sich in Genua und "an dem lieblichen Ortasee" (Hofmann 25) wohl sein zu lassen. Später folgen ausgedehnte Reisen nach München, zum Tellspiel nach Altdorf, zu den Festspielen in Bayreuth, nach Paris. Cabaret, Oper, Theater, elegante Welt, feine Gesellschaft, wie gehabt. Für Ida Hofmann, ehemals abhängige Angestellte in balkanischen Mädchenpensionaten, muß es ein schwindelerregender Aufstieg in soziale Höhen gewesen sein.

Kurz: Von gleichen Rechten und Pflichten der Teilhaber keine Spur. Die weniger Begüterten, die ihren letzten Groschen in das Unternehmen gesteckt hatten, mochten sich inzwischen auf der Scholle abrackern. Kaum von der Genueser Vergnügungsreise zurückgekehrt, wirft man Karl Gräser Faulheit vor: Angeblich ist in der Zwischenzeit zu wenig geschafft worden. Ein hinzugekommener sechster Gesellschafter, Fritz Röhl, hat sich an Karl angeschlossen und spricht zuviel von Freiheit, Brüderlichkeit und genossenschaftlichem Zusammen-schließen; Lotte schwebt zu sehr in höheren Sphären. Alle drei haben "utopistische Gelüste und fantasien" (H in Grohmann 20). Die Herrschaft ist unzufrieden.

Zum Glück strömen immer neue Idealisten hinzu, die freiwillig und kostenlos Arbeit leisten. "Unsere mitarbeiter", schreibt Ida, "erhalten keine bezahlung ihrer arbeit, den di arbeit eines menschen, der sich in idealem streben einer edlen sache widmet, ist unbezahlbar" (H in G 12 f.). Ein wahrhaft unbezahlbarer, von echtem Edelsinn erfüllter Satz!

Das Logis übrigens, das den Mitarbeitern gewährt wird, besteht aus einer Bettstelle ohne Federung oder Matratze, aber immerhin mit Strohsack und Decke (vgl. R 102).

Karl, der sich inzwischen mit ihrer Schwester Jenny verbunden hat, macht Ida den Vorschlag, sie möge doch auch ihr Vermögen in das Unternehmen einbringen. Ida ist nämlich lediglich mit den Zinsen ihres Vermögens beteiligt. Als sich auch noch Lotte mit dem (nicht ganz unbegründeten) Vorwurf einer "allzu üppigen Lebensweise" hervorwagt, die in krassem Gegensatz zum einfachen und harten Dasein der anderen stehe, ist das Maß für die Oedenkovens voll. Alle drei, auch Jenny, die Schwester von Ida, werden aus dem Paradies vertrieben. Karl wird ausbezahlt und kann damit einen Teil des ehemals gemeinsamen Grundbesitzes erwerben, Lotte findet Unterschlupf in einer leerstehenden Ruine. Nach einjährigem Bestehen hat die mit so viel Hoffnungen begonnene Lebens-, Wirtschafts- und Besitzgemeinschaft aufgehört zu existieren. Die Idealisten und Utopisten sind ausgebootet; Oedenkoven, der "öde Käufer", wie ihn die Gräsers nennen, kann triumphieren.

Von nun an ist Feindschaft gesetzt zwischen den "Kulturmenschen im Sinne der Zuchtwahl", wie Ida sich sieht und ausdrückt, und den "Naturmenschen" da draußen und drunten (H 47). Hofmann/Oedenkoven handeln nach den Erkenn tnissen ihres Leitbildes Darwin: survival of the fittest. Bitte "keine Verwechslung von uns (vom Sanatorium Monte Verità) mit den Naturmenschen machen", sagt Oedenkoven zu Besuchern. "Das Verhältnis ist so: In der Mitte ist die grosse Menge der Mittelmenschen. Am einen Ende sind die Naturmenschen, am andern wir" (H in G 20). Wo wir sind, heißt das, ist oben.

Oedenkoven hat endlich freie Hand. Die Entscheidungen fallen Schlag auf Schlag. Der genossenschaftliche Schlendrian, in dem jeder sich nach Neigung und Ermessen freiwillig in die gemeinsame Arbeit einreihen konnte, muß beendet werden. "Die zu leistende Arbeit wird von der Leitung je nach Fähigkeit der Mitarbeiter angeordnet (H 43). Wer nicht pariert, der fliegt. In der Tugendsprache der Ida Hofmann liest sich das so: "Dank der Wahrheitsliebe, welche uns beseelt, findet jedoch ein für Jeden nützliches Feilen statt" (H 43).

Und es fliegen viele, denn der Anspruch bewegt sich in biblischen Höhen: "Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt".

Es fliegt Willy Bradtke, es fliegen die beiden ersten Mitarbeiterinnen Henny und Marie Biber schon im Herbst 1902. Auch ihr Vater Rudolf Biber muß nach wenigen Monaten gehen (H 48).

Der sechste Gesellschafter, Fritz Röhl, in seinen libertären Bestrebungen nicht allzugern gesehen, kehrt der Kolonie den Rücken; er stirbt wenig später an den in italienischen Gefängnissen erlittenen Entbehrungen. Sein Freund Huster, ebenfalls Mitarbeiter, aber "von sozialdemokratischen Idealen erfasst" (H 26), sucht sein Heil lieber in Indien, zusammen mit Ferdinand Brune, der ebenfalls abgeht (H 30). Die Mitarbeiter Stelters, Germer und Vester wandern nach Samoa aus. Salomonson, wie sie selbst "ein glühender Verehrer Wagnerscher Musik" (H 50), der zu Idas Klavierspiel aus 'Parsifal' vorträgt, befindet sich bald "unter den unfreiwillig Scheidenden" (H 73). Pianist Lützow, ehemals Hofkapellmeister in Berlin, der ihre Konzerte virtuos auf der Geige begleitet, arbeitet zu wenig. "Wir geben ihm den Laufpass" (H 61). Luise Hecht, die unter sozialistischen Anwandlungen leidet, ist trotz Arbeitswilligkeit "kein geeignetes Element für den 'Monte Verità'" (H 73). "Der Vergleich mit einem Sieb, durch das noch Viele fallen müssen", schreibt Ida, sei so naheliegend, daß sie ihn zum Motto ihrer Darstellung wählen möchte (H 73). So wird auch die Trennung von Anita Dehn und Robert Jentschura zur Notwendigkeit. Robert wird von Oedenkoven "buchstäblich vor die Türe" geworfen (H 86). Auch über den dichterisch begabten Bruno Hauks muß, so schreibt sie mit Wagnerpathos, "die Scheide des schon so oft geschwungenen Trennungsschwertes" sich senken (H 48).

Der Ton ist nicht übermäßig menschenfreundlich. Von "Menschenmaterial" ist die Rede (H 73) und: "Es erfolgt die Entfernung schädlicher Elemente aus unserer Mitte, besonders der Faulenzer en gros" (H 60).

Am Ende finden sich die drei leitenden Direktoren Henri Oedenkoven, Ida Hofmann und Klara Linke allein auf der Schlachtstätte. Es ist ihnen gelungen, innerhalb dreier Jahre sämtliche Mitarbeiter und Gesellschafter zu vertreiben oder zu vergraulen. In ihrer Einsamkeit fühlen sie sich edel und auserwählt wie die "Essäer zur Zeit Christi und des Pythagoras" (H 87). Auch diese hatten die "bei uns nun eingeführte Organisation der Schüler- und Meisterschaft". Nur leider wollen sich keine Schüler einstellen. Darum: "Die Kategorie der Angestellten wird ... unvermeidlich und ich konstatiere eine bewusste Wiederaufnahme gesellschaftlicher Einrichtungen" (H 88).

Mit seiner selbsterdachten Ernährungslehre hat Oedenkoven in der Praxis Schiffbruch erlitten. Sie erwies sich als krankmachend, auch für ihre Erfinder. Scharenweise stahlen sich die Anstaltsbewohner in die umliegenden Felder und Dörfer, um sich die entbehrten Nährstoffe zuzuführen, nach denen ihr Körper unabweisbar verlangte. Der schwedische Ernährungsforscher und -reformer Are Waerland, in seiner ausführlichen Analyse der Sanatoriums-Diät, konstatiert den "vollständigen Bankrott der Fruchternährung auf dem Monte Verità" (W 1).

Daß Kurgäste in hinreichender Anzahl ausblieben, muß auch auf den Charakter der Anstaltsleiter zurückgeführt werden. Ida Hofmann und Henri Oedenkoven gewannen sich - außer bei den Dorfbewohnern, auf die der Oedenkovenschen Geldregen wie himmlisches Manna wirkte - wenig Sympathien. Weder Mühsam noch Grohmann noch irgendein anderer Zeuge kann sich für sie begeistern. Die Äußerungen sind durchweg kritisch, und die Journalisten, die 1903 gleich mehrfach den Berg besuchen, liefern ein nicht nur ironisches - was bei dem Thema durchaus zu erwarten war - sondern teilweise ein geradezu sarkastisch gezeichnetes Bild. Oedenkoven wird als kalt, herrisch und aufdringlich geschildert, Ida Hofmann zwar als ausgezeichnete Pianistin gepriesen, im übrigen aber als säuerliche "alte Jungfer" empfunden.

Von dem Journalisten Angelo Nessi wird Henri Oedenkoven so vorgestellt:

"Das also ist der Herr 'oedenkoven-hofmann'. Ich weiß nicht, warum er die Großbuchstaben und die Akzente haßt. Er ist groß, mit nazarenischem Bart und Haar, eine elegante und würdige Erscheinung mit schlankem und kräftigem Körper. Er trägt eine kastanienbraune Tunika mit weiten und bequemen Ärmeln. Er ist der Direktor, er ist der Patron, er ist der Chef. Aber sein kalter und metallischer Blick gefällt mir nicht; seine Rede ist höflich aber streng. Er möchte, daß ich ein Sonnenbad nehme."

Obwohl der Journalist nur gekommen ist, um einen Bericht zu schreiben, wird er von Oedenkoven während des Essens zu einer Behandlung gedrängt:

- "Wissen Sie, daß Sie sehr krank sind?"

- "Ich?"

-"Ja, Sie - fährt der liebenswürdige Herr Direktor fort - wir sind auf dem Berg der Wahrheit und ich sage es Ihnen frank und frei: binnen kurzem wird Sie eine äußerst schwere Krankheit befallen, mit verhängnisvollen Folgen. Sie sind schon völlig in einem Gärungszustand, Ihr Organismus..."

(Ich bin drauf und dran zu sagen: 'verrecke, Astrologe', aber ein anerzogenes altes Vorurteil vom Typ 'unzivilisiertes Benehmen' hält mich zurück. Ich verspüre jedoch ein wahnsinniges Bedürfnis, ihm die nußbuttergeschmälzten Erbsen auf die Schnauze zu hauen).

- "...Ihr Organismus ist in einem Gärungszustand..."

- "Oh, da schau her! Und ich habe nichts davon gemerkt..."

- "Sie nehmen alles auf die leichte Schulter."

- "Aber hier ist doch alles so leicht, die Kleidung und das Essen..."

- "Sie werden nicht mehr lange leben, alles in Ihnen befindet sich in Auflösung..."

- "Hören Sie, ich will mich lieber auf der Stelle auflösen, als mich Ihnen anzuvertrauen, und sei es auch nur für 24 Stunden." (In Rezzonico 82ff.)

Monte Gioia

Mit Beginn der praktischen Umsetzung konnte es keine Vernebelung der unterschiedlichen Positionen mehr geben. Die Unvereinbarkeit der beiderseitigen Vorstellungen wird in aller Deutlichkeit sichtbar.

Nachdem sich mit dem Handwerker Fritz Röhl ein weiterer Gesellschafter angeschlossen hat, der sich jedoch auf die Seite von Karl Gräser schlägt, bildet sich "ein wahres Freilager" von Suchenden, Bewunderern und Durchziehenden auf dem Berg. Ida Hofmann sieht mit Grausen eine "kommunistische Kolonie" sich entwickeln: "Allen, im Lebenstrubel zu Schaden gekommenen, unter der kapitalistischen Ausbeutung leidenden Existenzen soll zufolge Karl's communistisch-colonistischen Prinzipien und Fritzen's genossenschaftlichen Bestrebungen zur Lösung der sozialen Frage, bei uns geholfen werden." Ida antwortet darauf mit schneidender Kälte: "Henri und ich betrachten die meisten dieser Ankömmlinge als Kräfte, die freiwillig willkommene Arbeitsleistung gegen Kost und Quartier eintauschen" - das heißt, als billige, unbezahlte Arbeitskräfte (Hofmann 26 f.).

Die Vorstellung der Gräsers wird sichtbar: Die Siedlung sollte eine Zuflucht werden für die Enterbten und Verdammten dieser Erde, "ein Zufluchtsort ... für entlassene oder entwichene Strafgefangene, für verfolgte Heimatlose, für alle diejenigen, die als Opfer der bestehenden Zustände gehetzt, gemartert, steuerlos treiben, und die doch die Sehnsucht nicht eingebüsst haben, unter Menschen, die sie als Mitmenschen achten, menschenwürdig zu leben" (Mühsam, S.58 f.).

So hat Erich Mühsam, als Schüler von Karl Gräser, dessen Vision aufgenommen und weitergetragen, hat sie auch umgesetzt in den Gruppen des 'Sozialistischen Bundes', in seiner publizistischen und politischen Tätigkeit. Karl Gräser selbst, nachdem auch er von Oedenkoven aus dem Gemeinschaftsunternehmen gedrängt worden war, hat auf der schmalen Basis seines gartengroßen Grundstücks all denen Raum gewährt, "denen sich gegen Knechtschaft und Vergewaltigung in echtem Grimme der Mensch aufbäumte" (Mühsam, S.59). Oskar Maria Graf, der geprügelte Bäckerlehrling und spätere Schriftsteller, einer seiner Schützlinge, schreibt noch 50 Jahre später: "Carlo Gräser ...war in der dortigen Gegend sehr populär und hatte Anhänger und Verehrer in der ganzen Welt, denn jeder poltisch Verfolgte und Anarchist, der den Militärdienst verweigerte, fand bei ihm Unterkunft" (Graf, S.305). Ein anderes Mitglied der Guppe um Graf, Mühsam und Otto Groß, die in Ascona ihr eigentliches Zentrum hatte, der Schriftsteller Franz Jung, erinnert sich: "Wir hatten in München in der Gruppe TAT Leute, die an uns verwiesen wurden und die einem Einberufungsbefehl zum Militärdienst nicht folgen wollten, nach der Schweiz verfrachtet, für gewöhnlich zu den Gebrüdern Gräser in Ascona" (Jung 95).

Erst recht wurde im Ersten Weltkrieg die Gräser-Enklave auf dem Berg zum Treffpunkt von Kriegs- und Systemgegnern wie Hermann Hesse, Ernst Bloch, Hugo Ball, Pierre Jean Jouve und anderen. Trotz der Ausschließung durch den "öden Käufer" Oedenkoven (Gusto Gräser) erhielt sich also der Ursinn der Kolonie, wie er von den Gebrüdern Gräser gemeint war: als eine Zelle und Zitadelle der Gegenkultur für ganz Europa.



Quellen :

Oskar Maria Graf : Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933. Wien/München/Basel 1966
A. Grohmann: Die Vegetarier-Ansiedelung in Ascona und die sogenannten Naturmenschen im Tessin. Halle a.S. 1904. (= G)

Ida Hofmann-Oedenkoven : Monte Verità. Wahrheit ohne Dichtung. Lorch 1906 (= H)

Robert Landmann: Monte Verità Ascona. Die Geschichte eines Berges. Ascona 1934. (= L)

Erich Mühsam: Ascona. Eine Broschüre. Locarno 1905/6. (= M)

Giò Rezzonico (Hg.): Antologia di Cronaca del Monte Verità. Locarno 1992 (= R)

Are Waerland : Der vollständige Bankrott der Fruchternährung auf dem Monte Verità.
In: Waerlands Monatsmagazin, Mannheim 1952, Heft 11/12,   S.1-7 (= W)