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Was ich getan auf meiner Lebensbahn? -

Gewartet hab ich holdsten Lebenswahn,
wenig erwartet, wenig nur erharrt
und mich wie meine Welt
drum nicht ums Heil genarrt.

So wie ein Gärtner, eine Mutter tut,
hegt ich den Keim, das Kind
„Weltheil“
grundwohlgemuth.

Was konnt ich, kann ich Bessres tuhen, treiben, werben,
als aus Allkraft
mit aller Lust und Lieb
es zu entzeugen, zu entzücken
dem ewgen Jetzt,
ins Lebenswunder tiefhinein
zu sterben !?



"Ein verrückter Sachse – aber genial!"

„Das Auto verkaufen und einen Eselskarren anschaffen, durch die Lande ziehen“, schreibt er am 4. Februar 1930 an Otto Großöhmig. So geschieht es. Der Dichter zieht mit seinem jungen Freund im Eselwagen durch die Lande, singend, mit den Menschen sprechend und seine Schriften verteilend. „Stell dich nicht hoch, o Volk, sonst muss dich Neid zernichten, halt klein, halt tief“, heisst es darin. Und: „Diktator oder Dichter – wer ist der Weltenrichter? Vom großen Maul zum großen Ohr!“ Die Fahrt endet 1933 im KZ Osterhofen.

Diktator oder Dichter? Er sah sich als den Dichter, als das Große Ohr, als den Fürkämpfer und heimlichen Diener des Volks. Mal nannte er sich Gusto Gras, mal Springinsfeld, mal Weltwiedehopf, öfter aber schlicht: Arthur Siebenbürger. Bescheiden wie das Gras, lustig wie der Wiedehopf, frei und mutig wie ein Springinsfeld.

Vor 140 Jahren, am 16. Februar 1879, wurde Gusto Gräser in Kronstadt geboren. Den Menschen war er meist ein Rätsel. Spinner oder Prophet? Träumer, Phantast oder tiefer Denker? Was wird bleiben von dem Mann im Eselkarren? Seine Texte sind noch kaum gedruckt, geschweige denn erschlossen – und doch ist er heute schon weltbekannt. Weniger durch seine Dichtungen als durch sein Bild, durch symbolhafte Bilder, die sich niedergeschlagen haben in Romanen, Gedichten, Theaterstücken und Liedern moderner Autoren. Der Einsiedler in einer Höhle der Alpen, der Tänzer auf den Felsen, der Baumverehrer im Wald, der einsame Weise in seiner Dachkammer. Die mexikanische Schriftstellerin Marcela Sánchez Mota baut dem Eremiten Gusto in ihrem Roman einen Altar, vor dem sie niederkniet. Die französische Erzählerin Marie-Laure de Cazotte feiert ihn als Tänzer und Druiden, der die Sprüche von Laotse rezitiert. Ein anderer Autor sieht ihn als Gusto-Gargantua und Gusto-Diogenes, ein dritter als den Gegenspieler von Hitler. Der britische Liedermacher Steve Hackett besingt ihn als erleuchteten Eremiten: „The mantle of attainment weighs heavy on his shoulders ...“.

Alles nur Projektionen, Wunschbilder, Fantasien? Keineswegs. So haben ihn schon Zeitgenossen wie Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse gesehen.

Eine solche Szene hatte es bis dahin in der europäischen Geistesgeschichte nicht gegeben: ein noch nicht dreißigjähriger Einsiedler in einer Höhle der Alpen, der mit einem schon berühmten Schriftsteller zusammen die heiligen Schriften der Inder liest. Eine Urszene, ein archetypisches Bild. Indien kennt es als Satsang: „ein Zusammensein von zwei Menschen, die durch gemeinsames Hören, Reden, Nachdenken und Versenkung nach der höchsten Einsicht streben“. Beide befinden sich buchstäblich im Schoß der Mutter Erde, aus dem im Mythos die Helden, die Befreier, die Götter hervorgehen. Hesse hat die Szene im Sommer 1917 gemalt, nach einem Besuch auf dem Monte Verità: In finsterer Nacht tanzen zwei Gestalten in einer Felsgrotte um einen flammenden Feueraltar. Ein Bild ihrer damaligen Situation: Als aktive oder potenzielle Kriegsdienstverweigerer standen sie außerhalb der bestehenden Gesellschaft. Gusto Gräser war kurz zuvor wie durch ein Wunder seiner Erschießung im Kronstädter Gefängnis entgangen.

Der Mann im Eselwagen, immer wieder verhaftet, eingekerkert, ausgewiesen, von Land zu Land getrieben, er überlebte. Er erfreute sich seit den Vierzigerjahren sogar eines Mantels, den Hitlers Schergen ihm geschenkt hatten. So wie er könne man im Dritten Reich nicht herumlaufen, meinten sie und schleppten ihn in ein Warenhaus, wo ihm ein Havelock aufgedrängt wurde. Gräser, als „Asozialer“ gebrandmarkt und mit Schreibverbot belegt, flüchtete sich aus Berlin nach München. Dem Mantel der Staatspolizei schnitt er die Ärmel ab, stutzte die Länge und setzte im Rücken ein Rübezahlschwänzchen an. So umfunktioniert trug er das Staatsgeschenk bis an sein Lebensende.

Zu Kronstadt auf der Burg, da fing sein Leiden an. In den Kasematten der Cetatea, als Militärdienstverweigerer verurteilt, erschien ihm an der Kerkerwand ein Bild: eine endlose Schar von lachenden Erdensöhnen, die Menschen der Zukunft. „Hei, wie das lacht und kracht!“ Einer seiner jungen Freunde machte aus dieser Vision ein Büchlein, die 'Worte an eine Schar'. Er proklamierte die Hoffnung, dass sich aus der Mitte der Jugend heraus „die heilige Schar bilden wird, die mit der Leidenschaft der Liebe um die Geburt des neuen Menschenbildes ringt; die Schar, die uns erlöst“. Die heilige Schar! Ein anderer junger Freund, der Drechsler Friedrich Muck-Lamberty, unternahm es, diesen Bund im Wandervogelfeld zusammenzutrommeln. Ab Pfingsten 1920 zog die „Neue Schar“ singend, tanzend und spielend durch Thüringen. „Ganz Thüringen tanzt … Tausende auf einem Platz!“, schrieb der Verleger Eugen Diederichs. Gräsers Gedichte flatterten dem Zug voran, er sang und sprach an den Lagerfeuern der Schar. Von einem „Kreuzzug der Fröhlichkeit“ war die Rede oder von einem „Kinderkreuzzug“. Hermann Hesse hat diese Fahrt als „Morgenlandfahrt“ in die Legende erhoben: als den ewigen Zug der Menschheit zu den Quellen des Lichts.

Der Tänzer auf den Felsen. Um 1905 geht es als Sensation durch die Weltpresse: Ein Mitglied des österreichischen Kaiserhauses, Erzherzog Leopold von Toskana, Großneffe von Kaiser Franz Josef, hat sich den „Naturmenschen“ von Ascona angeschlossen, den Gräserbrüdern. Er nimmt teil an deren nächtlichen Mondscheintänzen im Wald von Arcegno! Doch Wölfling, wie der Ex-Erzherzog sich nun nannte, ist enttäuscht: „Diese Menschen, Männer und Frauen, hatten allen Gedanken an Sex verloren“. Sie stampften auf die Erde, sprangen in die Höhe und stießen spitze Schreie aus. Ekstatisch tanzten sie die Befreiung von allem Zwang, von jeder Konvention. „Sie waren ja so religiös“, erzählt ein Zeuge. Diese frühe Form einer Urschreitherapie brachte Gräser 1908 in Schwabing auf die Bühne. Durch seinen Landsmann Rudolf von Laban und die befreundete Mary Wigman wurde sein expressionistischer Ausdruckstanz in die Welt getragen.

Einer seiner Freunde, der Amerikaner Raymond Duncan, Bruder der Isadora, hat diesen Tanz in seinen Schulen in Paris und Nizza, in Athen und Delphi gelehrt und auch nach USA gebracht. Während aber Duncan als Amerikaner sich frei entfalten konnte, wurde Gräser in Deutschland ein Opfer der staatlichen Gewalt. Immer wieder verhaftet, ausgewiesen und abgeschoben: aus Sachsen, aus Baden, aus Württemberg, aus Bayern, aus der Schweiz. Ein Weg durch Gefängnisse und Nachtasyle. Er galt ja als Ausländer, als „der staatsgefährliche Rumäne Gusto Gräser“. Dass er auf sein Deutschsein pochte, sich mit Bedacht „Arthur Siebenbürger“ nannte, half ihm wenig oder nichts. Auch nicht die Fürsprache prominenter Schriftsteller wie Hauptmann oder Dehmel. Nur das Wort Thomas Manns hatte Gewicht genug, ihm 1926 die Ausweisung aus dem ganzen Deutschen Reich zu ersparen. Auch die Gaststätten verweigerten ihm oft den den Zutritt. Nur noch im Café Klein-Bukarest, hinter der Münchner TH, fand er eine Zuflucht. Der Wirt dort war ein Landsmann, ein ehemaliger rumänischer Fliegeroffizier. Hier hatte er seinen Stammplatz, hier war er Ehrengast, der nur den halben Preis zu zahlen hatte und an seinem Geburtstag beschenkt wurde. Einmal wurde ich Zeuge, wie ein schwarzer amerikanischer Sergeant dem greisen Dichter einen Stoß Schreibpapier auf den Tisch klatschte und ein Bündel Schreibstifte dazu. Er wollte dem Mann, den er bewunderte, ein Geschenk machen. Sie konnten sich mit Worten nicht verständigen, sie schüttelten sich nur die Hände.

Als er unbemerkt gestorben war, sollte sein Lebenswerk auf den Müll geworfen werden. „Keine Wertsachen“, lautete der amtliche Befund. Ein Beamter der Staatsbliothek rettete einen Teil für die Stadtbibliothek München, der andere Teil landete auf einem Schrank des Siebenbürger-Hilfsvereins. Eine Großnichte von Gräser hat ihn dort bewahrt und später dem Archiv in Freudenstein übergeben. Dort befindet sich heute die umfangreichste Sammlung von Gräseriana.

Über den Dichterpropheten Gusto Gräser sagte Hugo von Hofmannsthal in einer berühmt gewordenen Rede:  „Er ist auch Dichter, dieser unser Ungenannter, vielleicht ist er mehr Prophet als Dichter. … Für ihn ist alles überwunden und so wie es zu gelten scheint, nicht gültig, sondern muss zu neuer Gültigkeit von ihm wiedergeboren werden“.

Kürzer hat es Aurica Popescu, sein Wirt im Café Klein-Bukarest, auf den Punkt gebracht: „Sasul ţicnit – dar genial!“ - „Ein verrückter Sachse – aber genial!“

 



 
Wer war dieser Gusto Gräser?  Wie ist er zu verstehen?

Ich sehe ihn als Mystiker und Mythendichter, sein Auftreten, seine Rolle ist die eines Propheten. So in seiner Lebensweise, so in seinem Sprechen und Dichten. Einer, der ganz und bedingungslos für seine Mission lebt. Zugleich ist er ein tiefsinniger Denker, der die bestehende Kultur zunächst total verwirft, aber nicht aus Lust am Zerstören sondern um eine neue aufzubauen. Natürlich ist sein Antimodernismus nicht aufrechtzuerhalten, aber als Motivations-grund, als Antrieb war er unerlässlich. Nur wer tabula rasa macht, kann Neues schaffen, weil er Neues braucht. Gräser hat sich dieser herkulischen Aufgabe gestellt. Er hatte den Mut, bei null anzufangen.

Zugleich schöpft er aus seinem siebenbürgischen Erbe. Er spricht nicht davon, aber er lebt daraus. Im Grunde geht es ihm darum, diese Lebenswelt, die ihn geprägt hat, auf die Höhe des 20. und 21. Jahrhunderts zu heben. Er ist der große Modernisierer des Sächsischen. Die Frömmigkeit und Tapferkeit seiner Ahnen, die Einfachheit und Wärme seiner Heimat – wie kann ich das in der Wüste der Moderne bewahren? Wie muss ich es übersetzen? Das war im Grund die ihn bewegende Frage. Zugleich ist er natürlich der radikale Feind alles Zwanghaften, Beschränkten und Konventionellen, das diese Herkunft ihm aufgebürdet hat. „Ohne Zwang!“ seine Losung. Fern ist er von allem Heimatdichterischen, riesenhaft erhebt er sich über alles Provinzielle und Konfessionelle. Im fernen Osten, in Indien und China, sucht er seine Verbündeten ebenso wie im jungen Amerika der Transzendentalisten. Emerson, Whitman, Thoreau einerseits, Buddha, Krishna, Laotse andrerseits. Utopisten wie Charles Fourier oder Gustav Landauer nicht zu vergessen. Er stellt sich in die Tradition des Freiheitsdichters Schiller, so in seinen Sonntagsreden bei der Schillereiche über Stuttgart. Und natürlich ist ihm Friedrich Nietzsche ein Wegweiser, aber nicht der Nietzsche des Willens zur Macht, den er lebenslang bekämpfte, wohl aber der zarathustrische Umwälzer, der ein neues, ein viertes Evangelium schaffen will. 

Wie und worauf aber das Neue gründen? Gräser beruft sich auf keinerlei Tradition. Er stellt sich auf die eigenen Füße. Einen festen Grund glaubt er in der Sprache zu finden. Für ihn bilden sich in ihr die Grundwahrheiten des Lebens ab. Weniger im grammatischen Überbau, mehr und ursprünglicher in den Lauten. In ihnen sieht er die Urreaktionen des Menschen auf die ihn umgebende Wirklichkeit. Er schreibt deshalb ein ganzes Buch in Reimen, wo er den Aussagewerten der Laute, ihrer Symbolik nachspürt. Und er verwendet die Funde, die er dort macht, für sein eigenes Dichten. Daher die Fremdartigkeit seiner Sprache, dieses Altertümliche einerseits, das weniger erkennbare Moderne andrerseits. Auch das Konstruktive darin, fern von allem Stimmungshaften, Emotionalen. Allerdings geladen mit dem Pathos des Rebellen, Moralisten und Propheten. Mit unseren üblichen ästhetischen Kategorien ist sein Dichten nicht zu erfassen. Nicht der schönen Literatur gehört es an sondern der Weisheitsliteratur. Er will nicht unterhalten sondern Menschen erwecken, herausrufen aus ihrem Schlaf und ihnen die Augen öffnen für die Wirklichkeit. „Heimkehr zur Wirklichkeit“ ist eine seiner Losungen. Diese Wirklichkeit sieht er verstellt durch längst veraltete Traditionen einerseits wie durch moderne Illusionen andrerseits. Er führt einen Zweifrontenkrieg.

Was ist für ihn Wirklichkeit? Keine göttliche Offenbarung, keine Transzendenz zunächst, sondern die Grundtatsachen des Lebens: Geburt und Tod, Werden und Vergehen, Reifen und Zeugen, Bildung und Arbeit, Kampf und Not, Kindheit und Hochzeit, Ordnung und Gemeinschaft, Sprache und Religion. Gräser ist dichterischer Phänomenologe, in dieser Hinsicht Martin Heidegger verwandt. In anderer Hinsicht C. G. Jung: Denn die Wegweisung kommt für ihn aus den Träumen. In ihnen haben wir eine Universalsprache wie in den Lauten. Er nennt sich “TRäumer“ - mit einem großen R nach dem großen T, weil erst räumen muss, alles Gewusste ausräumen muss, wer wirklich Wahres träumen will. Sein Träumen ist also kein oberflächliches, alltägliches, sondern der Weg der Meditation, der Weg zum Selbst. Gräser war der Denker und Dichter der Selbstfindung, der Identität, lange bevor die „Selbst-verwirklichung“ zum Modewort wurde. „Vom Ich zum Selbst“ ist seine dritte Losung.

Die via negativa geht der via positiva voraus, die Reinigung der Einigung – ein alter Topos der Mystiker. Keine Einsicht ohne Verzicht. Weshalb er auch „REinigung“ schreibt, um beide Aspekte in einem Wort zu vereinen. Wie er überhaupt auf äußerste Kürze abzielt. So wandelt und wendet er das Wort Geist zu – Geïst (Ge-ist). Durch ein einziges Tüpfelchen, durch ein i-Pünktchen, spricht er seine Weltschau aus: Was ist, ist Geist. Die Wirklichkeit ist eine Wunderwirklichkeit, eine „Wonnewunderkugel“. Die Wonnewunder-kugel wächst und blüht aus dem „Weltenbaum“. Das ist seine Art von Transzendenz: sie wächst aus den Phänomenen, aus der Immanenz hervor. Das Alltägliche von Mahl, Wohnen, Hochzeit, Mutterschaft, Kindheit, Tanz und Sprache wird von ihm geheiligt, sakralisiert: die „Große Mutter“, der „Weltenbaum“, die „Allvermählung“, das „Heilige Mahl“, der „Erdsternsohn“ undsofort. Gräser erhöht die Urphänome des Lebens zu archetypischen Symbolen, zu seelischen und geistigen Leitbildern. Urbilder der Menschheit, die immer schon in den Religionen anwesend waren, tauchen in seiner Dichtung in neuer Gewandung auf, losgelöst von allen mythischen Traditionen, neugeschöpft aus eigener „Denkerschauung“. Also um Vieles rationaler, vernunftgemäßer, wirklichkeitsnäher als die Fabulationen von einst, die vor Jahrtausenden erfunden wurden und und unserem Weltbild nicht mehr angemessen sind. Er ist Entmythologisierer und zugleich Schöpfer von Mythen, aber von solchen, die mit schauender Vernunft nachzuvollziehen sind.

Das mag nun alles sehr übertrieben oder schwärmerisch klingen. Ist aber eine nüchterne, belegbare Bestandsaufnahme nach sechzigjähriger kritischer Prüfung. Gusto Gräser ist ein Phänomen, das es in der neueren europäischen Geschichte, soweit ich sehe, noch nicht gegeben hat. Man muss schon zu den Propheten des Alten und Neuen Testaments oder zu den Weisen Griechenlands zurückgehn, um Verwandte zu finden. Eher aber noch zu den großen Gründergestalten wie Moses, Jesus, Buddha und Laotse. Jesus vor allem, ihm von Kindheit an vertraut, steht immer im Hintergrund. Aber ein verwandelter Jesus, ein zum Diesseits gewendeter, ein lebensfroher, weltbejahender. Ein lachender und tanzender Jesus. Ein englischer Kulturhistoriker, Peter Watson, hat dies erkannt. Er nennt ihn einen „tanzenden Vagabunden“, Gräser habe einen neuen Menschentypus geschaffen, eben den tanzenden Vagabunden. Er meint die schon von Hölderlin, Nietzsche und Gerhart Hauptmann gesuchte und geforderte Symbiose von Jesus und Dionysos. Hermann Hesse hat ihn deshalb als den neuen „Zarathustra“ gesehen, was dasselbe besagt. Hesse hat in vielen historischen Vergleichsfiguren das Wesen des „Angelus Trans-sylvanicus“ zu umschreiben versucht, ihn als Franziskus, als Buddha, als tanzenden Derwisch, als Ordensgründer, Schamanen und Yogi dichterisch nachgebildet, ja auch als einen zweiten Jesus und Heiland. Keiner der Dichter, die über ihn geschrieben haben, ist ihm so nahe gekommen wie er, wie Hermann Hesse. Sein Werk ist eine verschlüsselte Verkündigung, eine geheime Botschaft. Die Höhle, in der er einst mit seinem Freund und Lehrer im Wald von Arcegno zusammenlebte, ist ihm zum Tempel, zu einem Heiligtum geworden. In den Erzählungen von Hesse ist Gräsers Inbild, namenlos, wie der es wollte, um die Welt gegangen und hat Menschen bewegt, lange bevor dessen eigenes Werk zum Vorschein kam. Ein Werk, das seiner Entzifferung immer noch harrt, das erst noch zu entdecken ist.

Hermann Müller