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Keine Spaziergänge im Garten des Seins


Gräser wehrt sich gegen seine Ausweisung aus Stuttgart
Gespräche mit Karl Josef Friedrich


Die erste Hesse-Gräser-Ausstellung gab es im Herbst 1977 auf Schloss Dätzingen bei Stuttgart. Damals schrieb eine Besucherin, die Witwe des evangelischen Pfarrers und Schriftstellers Karl Josef Friedrich, an den Veranstalter:

Sehr gehrter Herr Walter!

Bei meinem Besuch in Dätzingen am 21. Oktober d. J. versprach ich Ihnen eine Kopie des Gästebuch-Eintrags von Gusto Gräser nach seinem Besuch bei uns 1930. Hier ist sie [siehe unten!]. Im Tagebuch schrieb mein Mann damals:

"Mittwoch 29. Oktober. Gusto Artur Gräser, Naturmensch, Dichter, Prophet, einen Tag bei mir, spricht abends in der 57. Bibelstunde. Donn. 30 Oktober. Begleite Gräser bis Ottendorf."

Zu uns geschickt worden war Gräser durch die Pfarrfrau und Dichterin Esther von Kirchbach geb. von Carlowitz in Dresden. Sie äußerte danach uns gegenüber: "Diesem Mann könnte man seine Dankbarkeit nur zeigen, indem man seine Lehren annimmt, was uns aber überfordert."

Ich selbst stand wenige Wochen vor der Ankunft unseres ersten Kindes, als uns Gräser besuchte. Unvergeßlich ist es mir, wie er betonte: "Das wichtigste Jahr im Leben eines Mernschen ist das erste. Von der Umwelt, sie sei, wie sie wolle, ist das ganze weitere Leben geprägt.'  Eine Erkenntnis, die erst in den letzten Jahren Allgemeingut geworden ist.

Ich schenke Ihnen, da ich noch einige Stücke davon besitze, „Das Buch der Gottesfreunde“, von meinem Mann Karl Josef  Friedrich 1917 herausgegeben, nachdem er im März 1915 die meisten Persönlichkeiten selbst besucht hatte, die in dem Buch zu Worte kommen. … Ihre Edelgard Friedrich

Wichtige Nachschrift: Soeben lese ich im "Annuarium", daß mein Mann schon 1915 in Stuttgart eine Begegnung mit Gräser hatte!          

Eintragung Gusto Gräsers im Gästebuch der Familie Friedrich in Seifersdorf bei Dresden vom 30.Oktober 1930:

 

Spruch 28 aus dem ‚Tao Te King’ von Laotse in der Nachdichtung von Gusto Gräser


Wer wahrhaft Mann, denkt nicht zu zeigen die Kraft,
er kann sich neigen ---
weibtumgepaart wird er zeugen, was Freude schafft.
Wer wahrhaft Strom, der wird strömen und also sein Strombett auch finden.
Tief und tiefer fallen und wallen wird er, nit hoch, höher sich stelln.
Wer wahrhaft klar, denkt ans Erklären nicht, aber im Dunkel bewähren
wird er sein Licht!
Ist er Licht, braucht er kein Dunkel zu scheuen, und je mutvoll tiefer
ins heimliche Dunkel er taucht, umso glutvoll heisser und heitrer empor
blüht seine Tat!
Wer da wahrhaft grohs, der grühst auch das Kleinste mit Lieb,
und in die Täler der Hütten steigt er voll Innigkeit -
ach, er vergisst sich, begeistert voll Sinnen und Minnen,
als wie die Mutter im Spiel mit dem Kind,
schmeckend ewiges Sein.
-        -        -
Wie? So wäre der Mann, den wir brauchen, der Starke?
Jah, den wir brauchen, der kraftvoll Grohse, lösend den Krampf -
innig lebendig erbauend, was Stärke starrstolz zerstörte.
-        -        -
Grüsset, oh grüsset den mildfesten Mann!

*     *     *

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Die Begegnung von 1915, an die die oben erwähnte Tagebucheintragung erinnert, wird belegt durch Dokumente in der Berliner Staatsbibliothek: durch einen Brief und eine Postkarte, die Elisabeth Gräser aus Stuttgart an Friedrich geschrieben hat.

 

Ausschnitt

 
Degerloch Stuttgart
Donnerstag.

Lieber Herr Friedrich.

Da liegt gerade Ihr so lieber Brief vor mir und Ich werds noch einmal versuchen, obs jetzt leichter geht. Wohl uns! Wie Sie das Leben gut erfaßt haben, Sie sind spazieren gegangen im Garten des Seins, Sie Guter, und doch haben Sie nur von dem Göttertrunk darin getrunken bis Sie berauscht waren, dann sind Sie heimgegangen und Sie waren wieder der Karl Josef Friedrich, den ich sah und kenne.

Sie grünen, wollen Sie nicht blühen? Die Blühte und die Frucht kann nur durch die Tat werden. Ich mußte da eben gerade denken, wenn aber das Salz seine Kraft verliert u.s.w. oder wenn das am grünen Holz geschieht. Damit meine ich, wenn die, die es mit dem Geiste erfaßt haben, nicht zu der Tat schreiten. Dies schreibe ich, weil ich Sie lieb habe, Sie müssen alles, was von mir kommt, so aufnehmen.

Da hüpft meine liebe kleine Gesellschaft um den Tisch, während ich Ihnen schreibe und dann bum, bum geht’s da manchmal an den Tisch, und da hüpft die Feder ein wenig.

Waren Sie bei der Supper?

Es wird schon dunkel und da will ich zu Ende gehen mit meinen Zeilen an Sie.
Leben Sie wohl!

Ihre
Elisabeth Gräser und Kinder.
*


Vorderseite

 

[Poststempel: Degerloch, 25. Mai 15]
An Pastor Friedrich
Grünhain Erzgebirge
(postalisch gestrichen: Dresden-U., Heinrichstr. X)

Lieber Herr Friedrich

mein Mann ist nun wieder zurück, und ist dabei seine Andachten zur deutschen Erbauung einzuleiten. Die polizeiliche Erlaubniß haben wir. Sie versprachen mir über den Eindruck, den Sie von Auguste Supper haben, zu schreiben, vielleicht senden Sie mir bei dieser Gelegenheit den „Freund“, den ich Ihnen überließ, auch mit zurück. Es ist der letzte und mein Mann benötigt ihn. (x)

Wie geht es Ihnen. Wo stecken Sie?

(x = Nachschrift:) Ja, aber vor allem den aus Fleisch und Blut – Wohlauf! Gusto  und Elisabeth Gräser

*                            

(Originale in der Staatsbibliothek Berlin. Kopien im DMA Freudenstein)
 

Kommentar:

In Abwesenheit von Gusto Gräser schreibt seine Lebensgefährtin Elisabeth an den damals siebenundzwanzigjährigen Pfarrer und Schriftsteller Karl Josef Friedrich (1888-1965), der die Familie kurz vorher in Degerloch besucht hatte. Friedrich korrespondierte damals mit vielen Dichtern, Philosophen und Theologen für sein Sammelwerk ‚Das Buch der Gottesfreunde’, das mystische Schriften vereinigt, und könnte auch von Gräser einen Beitrag erwartet haben.

Elisabeth beantwortet einen Brief, in dem er seine Stuttgarter Erlebnisse resümiert und vielleicht als „Spaziergänge im Garten des Seins“ bezeichnet hatte. Er war von den Gesprächen mit Gusto berauscht gewesen. Nun aber ist Elisabeth enttäuscht, weil seiner Begeisterung nur schöne Worte aber keine Taten folgten. Offenbar hatten die Gräsers gehofft, der junge Mann  werde sich ihnen als Mitkämpfer anschließen. Der Siebenbürger stand damals im Kampf gegen seine Ausweisung aus Deutschland. Elisabeth ermahnt Friedrich vorsichtig aber doch deutlich zu einem praktischen Entschluss.

Mit der „lieben kleinen Gesellschaft“ sind ihre Kinder gemeint. Auguste Supper (1867-1951) war eine Romanschriftstellerin und Essayistin, die den Gräsers nahestand. Als „Andachten zur deutschen Erbauung“ bezeichnet Elisabeth die Versammlungen, die Gräser allsonntäglich bei der Schillereiche im Bopserwald abhielt. Mit dem „Freund“ bezieht sie sich auf die Flugschrift, mit der ihr Mann sich gegen die drohende Ausweisung verteidigte.

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Freunde!
Was sagen wir dazu?

Wenn ein deutscher Mann, aus Siebenbürgen stammend, drei Jahre lang in gutem Einvernehmen mit der Bevölkerung Württembergs lebend und wirkend, nun von der Stadtdirektion Stuttgart wegen der Deutschheit seines Tuns aus dem Lande gewiesen weden soll? Jawohl, wegen der Deutschheit seines Tuns, denn es ist aufrichtig und sein Beweggrund ist, des deutschen Lebens Rein- also Einigung.


Als Gründe seiner Ausweisung gelten - Erstens -
Seine wiederholten Gewerbevergehen.
Deutsch gesagt –

Sein freimütiger Austausch frohgearteter Vers- und Bildwerke, wahrlich nicht um des Gelderwerbs willen, denn aus Begeisterung für deutsche Art von ihm selbst hervorge­bracht.


Zweitens –
Seine wiederholten Verkehrsstörungen.
Deutsch gesagt –

Sein ordentlicher Verkehr in der Stadt Stuttgart, der gelegentlich der Verteilung seiner Gedichte und Sprüche auf freieren Plätzen zuweilen die Form eines friedlichen Umstehens von 40 bis 30 Menschen annahm, das nur durch das Hinzutreten des Polizisten sich manchmal in einen Knäuel neugierig Drängender verwandelte.


Drittens –
Sein wiederholter Ungehorsam gegen die Straßenpolizei.
Deutsch –

Sein treulicher Gehorsam gegen den Gemeinde- und Reinigungsmann in ihm selbst, der ihm gebot, sein Dichteramt, das Ermutigung und Ermunterung besonders verlangt, auszuüben - das er aber schlecht übt, wenn er der Angestelltenangst und ihren peinlichen kleinlichen Forderungen nachgibt.


Viertens –
 Wohl als Hauptgrund angesehen - Sein Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Deutsch –

Seine Folgsamkeit gegen die Lebensgewalt in seinem Blut und Mut, die ihn als Mann und Freund gehen heißt und ihm es oft unmöglich macht, sich von Standes-„Personen“, welchen Standes immer, als Knecht und Feind gängeln zu lassen.

     
  Fünftens –
         Sein illegitimes Eheverhältnis, das geeignet ist, Anstoß zu erregen.
Deutsch -

Seine echte Ehe, unentweiht durch Verschwörung und Eingriff fernestehender „Perso­nen" - Sein freier Ehebund, dem tiefverderblichen Gedanken „Ehe tritt erst ein und ist erst dort da, wo das Gesetz den Bund besiegelt“ keinen Vorschub leistend - Seine offene Ehe, die, soweit mir bekannt, bei halbwegs ordentlichen Menschen noch kein Ärgernis, wohl aber durch ihre Früchte schon manche Freude erregt hat.


Nun noch sechstens –
Trifft es nach dem „Paragraphen“ auch nur seine Frau, so wiegt es doch mit bei seiner Belastung und gehört mit hierher zur Reinigung ihres gemeinsames Tisches - Also - Ihre Weigerung, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Ins Deutsche übersetzt –

Ihr Eifer, ihre Kinder, ihre lieben Lebensaufgaben selbst zu lösen - Ihre Lust, ihre Lebenskeime selbst zu sonnen, sie geistig und leiblich echt und eigen zu nähren, damit sie zu eigentlichen Menschen erwachen und erwachsen können. Einfach, ihr doch wohl berechtigter Wille, leiblich und geistig eigene Kinder zu haben.


Und auch siebtens -
Damit die böse, ei, die heilige Sieben voll wird -
Ihre Weigerung, ihre Kinder impfen zu lassen.
Auf-deutsch aber –

Haben sie eben keine Bazillenangst, brauchen sie keine Bazillenpolizei und sind so frei, zum Wohle aller ihre eigenen Gesundheitswächter zu sein, indem sie immer wacher und wackrer sich aller kränkend fremden Eingriffe und Einflüsse erwehrend, immer gesünder und gesundheitansteckender leben.

Jawohl, der Mann, ich kenne ihn gut, will und kann seine gemeinschaftswillige Selbstbestimmung, also seine Selbstverantwortung über sich und seine Familie, mit ihr seine Art und mit ihr seinen Wert für sein Volk, als für das Herz der Menschheit, nicht aufgeben.

Dies also sein Sündenregister! Ist's nicht sein Ehrenschild?
...
Falterau bei Stuttgart, Ende Wittrer (Juni) 1915
Gusto Gräser


Pastor Karl Josef Friedrich über seine Begegnung mit Gräser im Frühjahr 1915:


"Damals lebte in Stuttgart ein Wanderapostel, Gusto Gräser, ein Reformer auf allen Gebieten, der halb nackt in griechischer Gewandung mit seiner Frau und seiner Kinderschar durch die Lande zog und dichtete, seine Gedichte schön druckte, verkaufte und davon lebte. Er hatte gerade Not mit der Schulbehörde, die seine Kinder in die Schule zwingen wollte. Ich konnte damals dem Bürgermeister diesen seltsamen, lieben Menschen ein wenig erklären und ihn zur Milde veranlassen."


(Mein buntes Leben, S. 155)


Lebenserinnerungen des sächsischen Pfarrers
Karl Josef Friedrich

Glaubrecht Friedrich (Hrsg): 
Mein buntes Leben.
Erinnerungen eines sächsischen Dichterpfarrers 
Notschriften-Verlag,
Altkötschenbroda 



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