Hermann Hesses Urlegende

Hermann Hesse hat Legenden geschrieben. Er hat Märchen geschrieben. Er hat Erzählungen und Romane geschrieben. Fast alle seine Werke handeln von einer Freundschaft. Und zwar von der Freundschaft zu einem Einsiedler und Wanderer, einem Heiligen und Weisen. Ob der bäurische Weise Heinrich Wirth, der für Hans Calwer zum Vorbild wird, ob der Waldheilige mata dalam, der das Auge inwendig hat, ob der Meister des vollkommenen Worts, der als Einsiedler in den Bergen lebt, ob Zarathustra, der aus den Bergen niedersteigt, ob Demian, der wie ein Zauberer und Eingeweihter zu Emil Sinclair spricht, ob Buddha und der Fährmann Vasudeva, die zu Lehrmeistern des Siddharta werden, ob Narziss, den Goldmund verehrt, ob Leo, der zugleich Diener und Oberster des Bundes der Morgenlandfahrer ist, ob der Altmusikmeister, der Yogin, der Beichtvater Dion Pugil, der Schamane Turu… - immer ist da ein überlegener Freund und Meister, zu dem ein Schüler oder Jünger verehrend aufblickt.

Es ist ein einziges Thema, das sich durch alle seine bedeutenderen Werke zieht. Hinter allen seinen Erzählungen, die entweder ausdrücklich Legenden sind oder  legendären Charakter tragen, steht eine Urlegende: die von einer Schülerschaft zu einem Freund und Meister, von den Irrungen und Verwirrungen dieser Freundschaft, von Zweifeln und Ängsten, von Abfall und Verrat, von Flucht und selbst von Mordgedanken, und dann auch von Reue und Heimweh, von Verehrung, Hingabe und Verschmelzung.

Hesses Interpreten haben diese Meistergestalt für eine Schöpfung seiner Phantasie gehalten. Man hat von seinem “alter ego” gesprochen, von einem verborgenen Persönlichkeitsteil. Man hat ihn einen selbstverliebten Narziss gescholten, der ständig mit seinem eigenen Spiegelbild beschäftigt ist. Man hat in ihm einen neurotischen Grübler gesehen, der mit sich und der Welt nicht zurechtkommt, der unaufhörlich um die eigene Nabelschau kreist. Man hat ihn als den ewig Pubertierenden verstanden, der nie zu seiner männlichen Reife gelangt, als einen unerlösten Pietisten, der aus dem Komplex von Schuld und Sühne nicht herausfindet, hat von einem „nomadenhaften Naturell“ gesprochen, das ihm angeblich angeboren war. Man hat ihn auch als verspäteten und epigonalen Romantiker gedeutet, der weltfremd in seiner Phantasiewelt gefangen bleibt. Man lächelt über Hesse, klopft ihm auf die Schulter: guter alter Kerl, nie ganz erwachsen geworden.

Die Sache sieht anders aus, ganz anders, wenn man weiß, dass hinter Hesses Meistergestalten nicht eine Phantasie steht, nicht ein ohnmächtiges Wunschdenken, nicht ein pubertäres Sichhinaufwünschen – sondern eine reale Person, ein lebendiger Mensch. Die Wertungen kehren sich um. Was Schwäche schien, Unreife und Krankheit erhält ein neues Vorzeichen, erlebt eine Auferstehung als heroisches Bekennertum, prophetischer Tiefblick, einsam-geheime Zeugenschaft.

Hesse hat einen Menschen gekannt, den die meisten für einen Narren hielten, für einen asozialen Sonderling, einen unbequemen Außenseiter, den man am liebsten loswerden wollte. Hesse aber hat in ihm einen Heiligen erkannt, einen Seher und Weisen.

Zu diesem Menschen zu stehen, sein Bild und seine Einsichten der Menschheit zu vermitteln, erkannte er als seine Aufgabe. Er hat sich gegen diese Aufgabe gewehrt, er hat sich ihr durch Flucht zu entziehen versucht, Zweifel und Ängste haben ihn immer wieder an den Rand des Selbstmords getrieben, aber letzten Endes ist er seiner Berufung treu geblieben. Offen konnte er für seinen Freund nicht eintreten, das hätte das Ende seiner Existenz als Bürger und Schriftsteller bedeutet. Es wäre der reale Weg in den Wald gewesen, der Weg des Heiligen, den er ersehnte aber nicht gehen konnte.

Seine Berufung war eine andere, eben die: ein Zeuge und ein Überbringer der Botschaft seines Meisters zu sein, ein Sprachrohr, eine Brücke. Seine sprachliche Kunst gab ihm die Mittel an die Hand, diese herbe und tiefgründige Botschaft durch dichterische Verhüllung zu mildern, sie damit für ein breiteres Publikum fassbar und annehmbar zu machen.

Hesse wurde und wird verkannt. Weil man seinen verhüllten Bericht für bloße Phantasie hielt. Weil man sein Werk einseitig nach ästhetischen Kriterien bewertete und nicht nach denen, die ihm eigentlich zukommen: denen der Heiligengeschichtsschreibung, der Weisheitsdichtung, eines verborgenen Bekennens und namenlosen Kündens.

Besser als die gelehrten Philologen haben ihn seine Leser verstanden. Seit Generationen wird er immer wieder von suchenden Menschen – Jugendlichen vor allem, denn  der Jugendliche ist der suchende Mensch par excellence – entdeckt, verehrt, gelesen, gefeiert. Seine Schriften werden als Wegweisungen fürs Leben verstanden. Das Bild eines außergewöhnlichen Menschen wird durch alle Verhüllungen hindurch instinktiv wahrgenommen. Es nährt die Menschen mit Hoffnung und Sinn.

Wie wir inzwischen wissen, ist es das Bild des Wanderers, Einsiedlers und Weisen Gusto Gräser.


Wikipedia:

Hermann Karl Hesse (Pseudonym: Emil Sinclair; * 2. Juli 1877 in Calw; † 9. August 1962 in Montagnola, Schweiz) war ein deutsch-schweizerischer Dichter, Schriftsteller und Freizeitmaler. Seine bekanntesten literarischen Werke sind Der Steppenwolf, Siddhartha, Peter Camenzind, Demian, Narziß und Goldmund, Unterm Rad und Das Glasperlenspiel, deren Inhalt die Selbstverwirklichung, die Selbstwerdung, die Autoreflexion, das „Transzendieren" des Einzelnen ist. Ihm wurden unter anderem 1946 der Nobelpreis für Literatur und 1954 der Orden Pour le mérite für Wissenschaft und Künste verliehen.

Literarische Bedeutung: Hesses frühe Werke standen noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts: Seine Lyrik ist ganz der Romantik verpflichtet, ebenso Sprache und Stil des Peter Camenzind, eines Buches, das vom Autor als Bildungsroman in der Nachfolge des Kellerschen Grünen Heinrich verstanden wurde. Inhaltlich wandte sich Hesse gegen die wachsende Industrialisierung und Verstädterung, womit er eine Tendenz der Lebensreform und der Jugendbewegung aufgriff. Insbesondere wurde ihm der Monte Verità um Gusto Gräser zum Inbegriff einer alternativen Lebensform. Diese neoromantische Haltung in Form und Inhalt wurde von Hesse später aufgegeben. Die antithetische Struktur des Peter Camenzind, die sich an der Gegenüberstellung von Stadt und Land und an dem Gegensatz männlich–weiblich zeigt, ist hingegen auch in den späteren Hauptwerken Hesses (z. B. im Demian und im Steppenwolf) noch zu finden. Die Bekanntschaft mit der Archetypenlehre des Psychologen Carl Gustav Jung hatte einen entscheidenden Einfluss auf Hesses Werk, der sich zuerst in der Erzählung Demian zeigte: In ihm deutet er die Person und die Botschaft seines Freundes Gusto Gräser mit den Mitteln der Jung’schen Psychologie. Der ältere Freund oder Meister, der einem jungen Menschen den Weg zu sich selbst öffnet, wurde sein zentrales Thema. Aus diesem Grund wählten und wählen immer noch zahllose Jugendliche Hesse zu ihrem Lieblingsautor. Die Tradition des Bildungsromans ist auch im Demian noch zu finden, aber in diesem Werk (wie auch im Steppenwolf) spielt sich die Handlung nicht mehr auf der realen Ebene ab, sondern in einer inneren „Seelen-Landschaft".

Ein weiterer wesentlicher Aspekt in Hesses Werk ist die Spiritualität, die sich vor allem (aber nicht nur) in der Erzählung Siddhartha finden lässt. Indische Weisheitslehren, der Taoismus, der ihm durch Gusto Gräser nahegebracht wurde, und christliche Mystik bilden seinen Hintergrund. Die Haupttendenz, wonach der Weg zur Weisheit über das Individuum führt, ist jedoch ein typisch westlicher Ansatz, der keiner asiatischen Lehre direkt entspricht, auch wenn durchaus Parallelen im Theravada-Buddhismus zu finden sind. Manche Kritiker führten gegen Hesse ins Feld, er benutze Literatur dazu, seine spirituelle Weltanschauung zu transportieren. Diese Kritik kann man auch umkehren und sagen, die Kritiker wenden sich gegen Hesses Weltanschauung und nicht gegen seine Literatur. Alle Werke Hesses enthalten eine stark autobiografische Komponente. Besonders offensichtlich ist sie im Demian, in der Morgenlandfahrt, aber auch in Klein und Wagner und nicht zuletzt im Steppenwolf, der geradezu exemplarisch für den „Roman der Lebenskrise" stehen kann.

Aus: Wikipedia 2018


Einsiedler in der Pagangrott
Um 1907 beginnt er (Hermann Hesse) sich erstmals wieder intensiver mit Fragen der Religion, diesmal in ihren indischen Erscheinungsformen, zu befassen. Er liest Schopenhauer und experimentiert in einer Kolonie von Lebensreformern auf dem Monte Verita mit Meditation, Yoga, Askese und Selbstkasteiung, vertieft sich - mit Herzklopfen, wie er sagt - in die esoterischen Erkenntnisse altindischer Erbauungsbücher wie der Bhagavadgita und in den Einheitsgedanken der Upanischaden, entdeckt gleichzeitig die christlichen Mystiker Jakob Böhme, Johannes Tauler, Meister Eckhart, aber auch den chinesischen Philosophen Konfuzius.
Volker Michels: Hermann Hesse und die Weltreligionen
Editionfaust, o. J., S.12
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Tatsache ist, daß die Begegnung meines Vaters mit Gusto Gräser - sie haben einige Tage zusammen in einer Höhle bei Arcegno verbracht - schon ein wichtiger Augenblick war. Ein Anstoß in einer Krisenzeit.
Dieses Treffen war 1907 auf dem "Monte Verita" bei Ascona. Und Gusto Gräser hatte meinen Vater dazu inspiriert: "Komm' mal mit, wir wollen da in einer Höhle wohnen". Ich hab' diese Version schon früher gekannt, war aber nur halb sicher und habe neuerdings einen Brief meines Vaters zu lesen bekommen - ein Brief, der jetzt aufgetaucht ist und nach dem ich 20 Jahre gesucht habe und der nicht zu finden war - darin fand ich die Bestätigung, daß dieses Leben in einer Höhle wirklich stattgefunden hat.
Heiner Hesse in Michael Santen:
Auf den Spuren von Hermann Hesse, Meerbusch 1987, S. 49


Im Felsentempel
Aquarell von Hermann Hesse

Es gibt ein Aquarell von Hesse. Darauf sind er und Gräser am Lagerfeuer zu sehen. Man weiß nicht genau, ob sie tanzen oder beten. Gräser war eine dionysische, lustvolle Person. Er predigte das Wilde. 'Wildheil' nannte er das oder 'Wildwohl'. Er wollte, dass wir uns rückbesinnen auf unsere Intuition, unsere angeborene Schöpferkraft. Dass wir mit heiligem Ernst spielen.

Heinrich Wirth zu Hans Calwer: „Ehe du die Not des Lebens am eigenen Leib erfahren hast und begreifen lernst, was Unabhängigkeit von Lust und Reizen des äußeren Lebens bedeutet, kannst du nicht vorwärts kommen. Du gehst denselben Weg, den Buddha ging und den jeder gegangen ist, dem es mit der Erkenntnis ernst war. Die Askese selbst ist wertlos und hat noch keinen Heiligen gemacht, aber als Vorstufe ist sie notwendig. Die alten Inder, deren Weisheit wir verehren, die haben vierzig und mehr Tage fasten können. Erst wenn die leiblichen Bedürfnisse ganz überwunden und nebensächlich geworden sind, kann ein ernstliches geistiges Leben anfangen."
Hermann Hesse: Freunde (1907). Frankfurt am Main 1986, S.109

In den Felsen, so der Titel dieser in Ichform geschriebenen Notizen eines Naturmenschen, schildert ein mehrwöchiges Fastenexerzitium und wildes Nomadenleben in einer Natur, in der man die Wälder und Felskuppen rund um den Monte Verita bis nach Arcegno und Ruino wiedererkennt.
Stefan Bollmann: Monte Verita 1900, S.208
 
14 Jahre später wird er in seiner Buddha-Legende "Siddharta" auf diese Exerzitien wieder zurückkommen und der durch die Askese gewonnenen Selbstdisziplin, der Fähigkeit „zu denken, zu warten und zu fasten", eine für die Entwicklung seines Helden wegweisende Bedeutung zumessen.
Volker Michels (Hg.):
Hermann Hesse: Tessin. Frankfurt am Main 1993, S. 292


Siddharta in der Grotte Aus dem Film 'Siddharta'

Hier ist mein heiliges Land, hier bin ich hundertmal den stillen Weg der Einkehr in mich selbst gegangen, und geh ihn heute neu und geh ihn niemals aus.
Hermann Hesse: Bei Arcegno (1917)