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"Hetty"
Enrichetta Rogantini de Beauclair
(1928 – 8.5.2018)
Die Seele des Berges

Mit Enrichetta Rogantini de Beauclair, die alle „Hetty“ nannten, ist am 8. Mai 2018 die letzte lebendige Verbindung mit der Blütezeit des Wahrheitsbergs dahingegangen. Sie wurde 90 Jahre alt. Wer sie kannte, ihre übersprudelnde Vitalität, ihre Tatkraft und Frische, der hätte eigentlich erwartet, dass sie so alt werden könnte wie ihr Halbbruder Wilfried, den sie in Freiburg immer wieder besucht hat und der sie mit 106 Jahren überlebt.

Hetty Rogantini hat jahrzehntelang die Pforte der Casa Anatta gehütet, hat jahrzehntelang vielsprachig – ob deutsch oder italienisch, französisch, englisch, holländisch oder schwyzerisch – Besucher durch die Museen geleitet und ihre Geschichten ihnen nahegebracht. So wurde sie im Laufe der Jahre zur lebendigen Verkörperung des Monte Verità, zur mütterlichen Seele des Berges.

Sie war eine Tochter aus zweiter Ehe des Malers Alexander Wilhelm de Beauclair (1877-1962), der 1906 auf den Monte Verità kam, zeitweise Geschäftsführer für Henry Oedenkoven war und eine Malschule führte. Seiner ersten Ehe mit der Malerin Friederike Krüger entstammten die Söhne Gotthard (1907-1992), der ein bekannter Lyriker und Schriftgestalter wurde, und Wilfried (geb. 1912), Ingenieur und Informatiker, der als ein Pionier der Computertechnik gilt. Die Beziehung zu Malerei und Dichtung war ihr also in die Wiege gelegt, und so war sie für die Aufgabe bestens vorbereitet, die sie nach dem Tod ihres Vaters und ihres Ehemanns übernahm.

Ihre Kindheit verbrachte sie im hochgelegenen Berzona im Onsernonetal. Aus ihren Erinnerungen daran haben Yvonne Bölt und Gian Pietro Milani 2004 ein reich bebildertes Buch gemacht (Yvonne Bölt, Gian Pietro Milani: Dal Monte Verità di Ascona … a Berzona in Onsernone. Hetty De Beauclair racconta il meraviglioso mondo della sua infanzia. Editioni Serodine, Ascona 2004, ISBN 88-85118-42-9). Über ihr Leben und den von ihr gehüteten Berg hat dann Teo Buvilo einen Film gedreht, der 2009 im RSI gesendet wurde.

Il Monte di Hetty

Dokumentarfilm von Theo Buvoli und Alfio De Paoli
über den Monte Verità und Gusto Gräser
Radiotelevisione svizzera RSI, Schweiz, 2. Nov. 2009, 21:00
, 43'

Eine Szene darin zeigt sie mit Hermann Müller zusammen, dem Verwalter des Nachlasses von Gusto Gräser, im ehemaligen Garten von Karl Gräser.

Ihr Vater war ja ein Nachbar der Gräsers gewesen und wohl freundschaftlich-nachbarlich mit ihnen verbunden. So kam es denn, dass der Maler Alexander Wilhelm de Beauclair, selber kein reicher Mann, dem noch ärmeren Dichter Gusto Gräser ein ganzes Bündel Gedichte abkaufte, wohl weniger aus Liebe zur Dichtung als aus Solidarität mit ihrem Dichter. Gräser befand sich damals in einer, auch für seine Verhältnisse, extremen Notlage. Hatte er doch vor kurzem eine alleinstehende Frau mit fünf Kindern kennen gelernt und sich mit ihr verbunden. Nun also hatte er, selbst besitzlos und obdachlos, von einem Tag auf den andern für eine siebenköpfige Familie zu sorgen. Wie sie ernähren? Wie und wo unterbringen? Mit seinem Bruder Karl hatte er sich überworfen, seine Freundin Albine Neugeboren in Monti nahm ihn und seine Familie wohl zeitweilig auf, doch auch ihr wurde die Last auf die Dauer zuviel. Freunde sprangen ein. Der deutschrussische Baron Paul von Rechenberg-Linten in Ronco, esoterischer Schriftsteller, nahm eine seiner Pflegetöchter auf, eine andere der Sozialdemokrat Edmund Meyer, genannt der „Bartmeyer, die rechte Hand von Fritz Brupbacher in Zürich. Zu den Hilfsbereiten nun gehörte auch de Beauclair, der dem hart Bedrängten 20 handgeschriebene Gedichte abkaufte, die noch eine lange Geschichte haben sollten. Ob sie der Maler je gelesen hat? Jedenfalls hat er sie in eine Spalte seiner Holzhütte gesteckt, wo sie ein volles Jahrhundert unbemerkt und unentdeckt überlebten. Um 2008 herum stiess dann seine Tochter Hetty, wohl beim Aufräumen, ganz unvermutet auf dieses Bündel, das sich unbeschädigt erhalten hatte. Es handelt sich, durch die Beschriftung und Datierung von de Beauclair, um die einzigen Verse von Gusto Gräser, die zeitlich zu bestimmen sind, zumindest mit der Eingrenzung: vor 1909 entstanden. Durch sie erst haben wir einen Einblick in seine Denk- und Dichtweise im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts. Auch dass er sich zu dieser Zeit noch Gust oder Gusto Gras nannte, wird durch dieses Blatt bezeugt.

Ein Beispiel aus dieser Sammlung:


 
Das Glücke hat in dem Palast nicht gern sein Stelldichein,

hat's lieber nickt ein grüner Ast ins stille Kämmerlein.
In Hütten fühlt es sich gar wohl, die Schlösser sind ihm
viel zu hohl.

Schlösser standen dem armen Gusto nicht zur Verfügung, noch nicht einmal eine Hütte. So dürfen wir denn vermuten, dass das Ehepaar de Beauclair zeitweise einige der Kinder von Gräser beherbergt und durchgefüttert hat. Schliesslich handelte sich für das Malerpaar bei dem Brüderpaar Ernst und Gustav Gräser um Kollegen und Nachbarn, da hilft man sich aus. Ernst Heinrich Graeser (1884-1944), der jüngere Bruder von Gusto und damals noch Malstudent, befand sich nämlich zu der Zeit ebenfalls auf dem Monte Verità. Er hatte 1906/7 mit seinem Bruder zusammen in Locarno eine Kunstausstellung gemacht, woraus dann, im Hause von Karl, die erste Gemäldegalerie von Ascona wurde. Da auch die Mutter der Gräserbrüder sich ein Jahr lang bei ihren Söhnen aufhielt, kann ein nachbarliches Zusammenkommen nicht aus-geblieben sein. Aus einem Brief von de Beauclair an Hermann Hesse von Ende 1917 geht im übrigen hervor, dass der Maler mit Hesse (und damit auch mit den Gräsers) in seiner antimilitaristischen Einstellung völlig einig war. Es lohnt sich, dieses Dokument hier einzufügen:

Ascona 31. 12. 17
Herrn Schriftsteller H. Hesse, Bern, Haus Welti
L. H. Hesse, Was werden Sie für Anfechtungen haben auf Ihren Artikel "Soll Friede werden?! – Lassen Sie sich nicht umstimmen, um Himmels willen nicht! Die Landsleute hier sind außer sich über Ihren Artikel und auswärts wird es nicht anders sein. Sie werden also viele Schmähbriefe erhalten. Die Bestien sterben halt nicht aus. – Prächtig waren Ihre Worte, ich fühle stark mit Ihnen, Dank über Dank von mir aus!
Ein glückliches Neues Jahr!
Ihnen und Ihrer Familie
von Ihrem
A. W. de Beauclair
(Deutsches Literatur Archiv Marbach)

Hesse wurde von Beauclair ermutigt. Er fühlte sich politisch völlig vereinsamt; Ascona hat ihn bestärkt und gestützt. Leider ist der Briefwechsel von de Beauclair mit Hermann Hesse, von dieser Ausnahme abgesehen, vollständig verloren gegangen. Er wurde von den Erben vernichtet zu einer Zeit, als der Monte Verità vergessen war oder als überlebte Narretei galt. Hätten wir ihn, würde sich wahrscheinlich zeigen, dass der Maler, mindestens am Rande, zu dem Freundeskreis gehörte, dem wir in 'Demian' in romanhafter Form begegnen. In eben jenem Jahr 1917 war Hesse auf dem Monte Verità gewesen. Er hatte dort den Maler Arthur Segal besucht, ebenfalls ein Nachbar der Gräsers und damit auch von de Beauclair. Wohl möglich, ja wahrscheinlich, dass Hesse, der nach diesem Besuch sein bekanntes Tempelhöhle-Bild malte, damals auch mit diesem Malerkollegen sich unterhalten hat. Der vertrauliche Ton von dessen Brief spricht dafür. Von seiner Hand stammt auch das einzige Gemälde aus Hesses „thebaischer Wüste“ in den Felsen von Arcegno. Es zeigt den Weiher, in dem der Einsiedler Hesse 1907 sich gebadet und aus dem er seinen Durst gestillt hat. Es zeigt auch die Felsen, in denen Gräsers Grotte sich befindet.


A. W. de Beauclair: Der „Hesseweiher“ in den Felsen von Arcegno

Wie schreibt doch Erika Kessler in ihrem Nachruf? „Quanto raccontava di Gusto Gräser, Hetty s'illuminava. Un giorno mi ha mostrato la grotta di Arcegno dove ha vissuto per alcuni mesi anche Hermann Hesse. Era una sorte di segreto che mostrava solo agli amici più intimi“.

Wenn sie von Gusto Gräser erzählte, leuchtete Hetty auf. Eines Tages zeigte sie mir die Grotte von Arcegno, in der während einiger Monate auch Hermann Hesse lebte. Es war eine Art Geheimort, den sie nur ihren engsten Freunden zeigte.“

Hetty Rogantini war eine unerschöpfliche Erzählerin und eine unermüdliche Gastgeberin. Ihre abendlichen Gastmähler, die auch die Achtzigjährige, rotbäckig und silberhaarig, immer noch mit eigener Hand bereitete und servierte, gerieten immer zu einem kleinen Fest. Ihr locker fliessendes Reden war von glucksenden kleinen Juchzern begleitet, ihr Sprachton ein hellwarmes Singen. Ihr Lächeln – ein Leuchten.

Diese Geschichten und viele andere könnten nicht erzählt werden, hätte es nicht Hetty Rogantini gegeben, die mit dem Monte Verità so eng verwachsen war, dass er in einem Film als 'Il Monte di Hetty' vorgestellt wurde - als „Hettys Berg“.


2007 in Ascona, im Vordergrund links Hermann Müller, rechts Hetty Rogantini             Foto: Angela Müller-Gräser