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Von Suchern und Strebern, von Hans FreimarkUnsre Zeit ist eine Zeit des Ueberganges; die alten Tafeln sind teils zerbrochen, teils scheint uns ihr Inhalt unverständlich … Und doch ist in vielen der heutigen Menschen der Wunsch nach neuen Wirkungsmöglichkeiten und damit nach neuen Wirklichkeiten lebendig. … Ein berechtiger Wunsch ohne Zweifel. … Uns dünkt, es sei das, was sich in den Prophetien Nietzsches vom Uebermenschen – sein wirr-ekstatisches Stammeln recht verstanden – unserm Verstehen enthüllt: Die Vereinigung von Natur und Kultur. …

Erfreulich ist es, wenn wir sehen, daß etwas, was bislang der öffentlichen Meinung, zum großen Teil wenigstens, geradezu als Zerrbild menschlicher Lebenshaltung präsentiert wurde, sich als Bild harmonischer Menschlichkeit erweist und zu den schönsten Zukunftshoffnungen berechtigt.

So erging es uns mit Monte Verità. Die berühmte Naturmenschenkolonie am Lago Maggiore, als welche sie vom Unverstande oder dem Mißverstehen vieler hingestellt wurde, ist nicht nur äußerlich, sondern auch sinnbildlich der Gipfel aller Gründungen, die im Tessin im Laufe der Jahre um die Ortschaften Locarno und Ascona sich gruppiert haben. Monte Verità machte den Anfang. 

Je mehr die Arbeit fortschritt, das Land urbar gemacht wurde, die aufgestellten Häuschen Wohnlichkeit ermöglichten und Heimatgefühl erweckten, um so mehr kam auch das Gründerpaar von den allzuweit gehenden Extremen ab. Nicht so die übrigen Mitgründer. Sie wollten von dem, was sie einfach nannten und was doch in Wahrheit einerseits nur eigensinniges Beschränken, anderseits rücksichtslose Losgebundenheit war, nicht ablassen. Sie schmähten in Oedenkoven und seiner Gattin die Kapitalisten und machten ihre kommunistischen Ansprüche geltend. Es kam zur Trennung. Von den Mitarbeitern haust heute nur noch einer, ein früherer österreichischer Offizier [Karl Gräser], mit seiner Gattin [Jenny Hofmann], einer Schwester Ida Hofmanns, auf einem umfänglichen Grundstücke unterhalb des Monte Verità.

Der „Erdenbürger von Ascona“, wie sich der Mann vor Zeiten zu nennen liebte, ist von dem, was er einst mit Eifer gegen die Kapitalisten verfocht, ebenfalls etwas zurückgekommen. Er fühlt sich wohl in seinem Eigentum. Aber er vertritt noch heute die Ansicht, daß wir alles, was wir zu des Leibes Nahrung und Notdurft bedürfen, mit eignen Händen herstellen müssen. Bedauernd erklärt er, daß sein Haus von „Menschen“ – Maurern – gebaut sei, und es ist ihm Schmerz, daß er die Wasser-leitung von fremden Arbeitern anlegen lassen mußte. Es läßt sich denken, daß ihnen zur Pflege geistiger Interessen wenig Zeit bleibt. Aber das hält der „Erdenbürger“ auch nicht für nötig. „Schreiben und Reden ist nichts“, sagt er, „wer dem Geiste des Lebens gehorcht, nach seinem Willen lebt, der tut, was er einzig soll und kann. Wenn wir an der Erde arbeiten, kommen uns Gedanken, die gehen auch ohne Zutun in die Welt und wirken dort, und auch unser Leben selbst wirkt; das ist alles, was wir tun dürfen.“ …

Monte Verità ist auf dem besten Wege, eine Sammelstätte von Persönlichkeiten zu werden, die einem neuen Lebensideal nachstreben und es, soweit als ihnen möglich, verwirklichen. Die Kunst hat auf Monte Verità eine Heimstätte gefunden. … Der individuellen Kleidung entspricht die individuelle Tanzkunst, die man auf Monte Verità pflegt. Die rhythmische Gymnastik des Genfer Konservatoristen Jacques Dalcroze wird dort eifrig propagiert. …

Man verliert also, wie wir sehen, auf Monte Verità weder den Zusammenhang mit der Kultur, noch verneint man sie: man hat sich nur von ihrem Zwange befreit und will über sie hinaus; man will Natur und Kultur zu einem Gesamtkunstwerk verbinden, das recht eigentlich den Namen Leben verdient.

Aus Freimark, Hans:
Von Suchern und Strebern
In: Arena. Illustrierte Montatshefte für ein modernes Leben. Herausgeber Rudolf Presber. Jahrgang 1909/10, Heft 2, S.185-193
Mit sieben Fotos

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