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„Er friert ein“
Reinhard Goering auf dem Berg der Wahrheit

Reinhard Goering

Von STEFAN OTTO - © Die Berliner Literaturkritik, 17.07.07

Reinhard Goering ließ seine schwangere Frau Helene in Davos zurück, als er sich erstmals 1915 auf den Weg nach Ascona machte. Auf dem Monte Verità („Berg der Wahrheit“) wollte der Literat eine Tuberkulose-Erkrankung auskurieren, die er als Arzt während eines Fronteinsatzes erlitten hatte.

Im entlegenen Ascona betrieben der Belgier Henri Oedenkoven und die Münchnerin Ida Hoffmann ein Sanatorium, dem ein lebensreformerischer Ruf vorauseilte. Der Monte Verità war eine Künstlerkolonie und wurde während des Ersten Weltkriegs eine Anlaufstation für Kriegsdienstverweigerer aus ganz Europa. Hier, auf der Südseite der Alpen, waren die Fronten in Frankreich und Russland weit weg. In den folgenden Jahren besuchte Reinhard Goering immer wieder Ascona und verweilte längere Zeit auf dem Monte Verità.

Diese Aufenthalte übten maßgeblichen Einfluss auf sein Leben und Werk aus – zu diesem Schluss kommt Frank Milautzcki in seiner Abhandlung „Reinhard Goering – Ein Unbekannter auf dem Berg der Wahrheit.“ Ascona wird für den Dichter „zu einem Ort der Selbstfindung, und alles, was er nach 1915 schreibt, hat seinen tiefen Ursprung in dieser Landschaft und den Erlebnissen darin“, konstatiert Milautzcki, nachdem er den Nachlass Goerings im Marbacher Deutschen Literaturinstitut sondiert hat und dessen Leben während des Ersten Weltkriegs akribisch rekonstruiert hat.

Drei bisher unveröffentlichte Prosatexte hat Milautzcki seinem Essay samt Erläuterungen angefügt. Es sind kurze Abhandlungen, die den Einfluss des Treibens in Ascona auf den autobiographisch schreibenden Goering belegen. „Erinnerungen an Locarno“ zeugt vom Eindruck, den die Lebensreformer mit anarchistischen Ideen, religiösen Schwärmereien und individualistischer Lebensgestaltung auf ihn machten. Goering selbst wollte in diesen Jahren auf Familie, Besitz und Dichterruhm verzichten, gleichwohl seine Tragödie „Seeschlacht“ ein Erfolg war, für die er 1922 den Schillerpreis erhielt.

„Erinnerungen an Locarno“ schrieb Goering 1925, kurz vor dem beginnenden Außenminister-Treffen im Nachbarstädtchen Asconas. Der Literat schließt seinen Text mit der Hoffnung, dass die Stimmung, die von den Lebensreformern ausgeht, auf die Politik übergreifen möge. „Es ist durchaus möglich, dass die dort jetzt beginnende Konferenz etwas von solcher Luft zu atmen bekommt.“ Milautzcki lässt Goerings Schlusssatz in seiner anschließenden Erläuterung außer Acht. Ebenso wie er die Wirkung des Krieges, der halb Europa ins Verderben stürzte, ausblendet und den Fokus seiner Schrift gänzlich auf die experimentelle Welt im Tessin richtet.

In der Kurzgeschichte „Der tote Bruder“ erkennt Milautzcki denn auch den Wanderprediger Gusto Gräser, der längere Zeit in Ascona lebte. Gräser verlor – ebenso wie die Figur der Handlung – seinen Bruder und galt gemeinhin als Sonderling. Der Eigenbrödler in der Handlung ist hin- und hergerissen, zwischen einer Lebensfreude einerseits und dem Erkennen der Welt andererseits. Beides steht für ihn im Gegensatz zueinander. Es gibt nur ein Entweder-Oder. Mit Gräsers Lebensauffassung sei das allerdings nicht vereinbar, befindet Milautzcki und mutmaßt, dass Reinhard Goering den Wanderer Gusto Gräser zwar persönlich gekannt, aber nur unzureichend verstanden habe. Die Begründung dafür überzeugt allerdings nicht vollends. Milautzcki stützt sich zu sehr auf die Handlung, die zwar viel vom Autor verrät, aber doch fiktiv ist.

Der dritte Text „Atemübung“ beschreibt den Versuch des Arztes Klebber, durch meditatives Atmen seelisches Leiden zu überwinden. Der Mediziner ist fest entschlossen, diesen Weg bis zum Ende zu gehen und entweder Heilung oder den Tod zu erfahren. Milautzcki sieht darin wieder den biographischen Bezug: Auch Goering sei von Sinnkrisen heimgesucht worden und Zeit seines Lebens auf der Suche nach einem intensiven, wahrhaften Dasein gewesen, das ihm allerdings oftmals ins Banale abgeglitten sei.

Die avantgardistische Gemeinschaft auf dem Monte Verità konnte Reinhard Goering nicht davor schützen. „Das Jahr 1918 scheint eine Art Höhe- und Scheidepunkt. Er friert ein. Er fasst geistige Beschlüsse und sucht Endgültigkeiten“, schreibt Milautzcki. Goerings Denken und sein Wollen kollabierten. Der Dichter gab für Jahre das künstlerische Schaffen auf, bat seine Freundin Cilla, alles von ihm Geschriebene zu vernichten. Er brauchte Jahre, um sich davon zu erholen. Erst 1930 gelang ihm mit „Die Südpolarexpedition des Kapitäns Scott“ wieder ein Bühnenstück, das aufgeführt wurde.

Stefan Otto lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin.

Literaturangaben:
MILAUTZCKI, FRANK: Reinhard Goering – ein Unbekannter auf dem Berg der Wahrheit. Ein Essay und Kommentare zu drei Prosaskizzen von Reinhard Goering. Verlag im Proberaum 3, Klingenberg 2007. 54 S., 7,80 Euro.

email: wuestenschiff@t-online.de

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