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Vom Überleben der Demut

über den Film „ Der Eremit vom Monte Verità“ von Christoph Kühn

Der 1952 geborene Schweizer Regisseur und Filmemacher Christoph Kühn überzeugte in der Vergangenheit mit filmischen Lebensgeschichten u.a. der Globetrotterin Ella Maillart (1992) oder des ebenfalls globetrottenden Nicolas Bouvier (2005), so daß das nun vorliegende filmische Portrait von Gusto Gräser sich nahtlos einfügen lässt in eine imaginäre Reihe über spirituell suchende Menschen, denen Erleben und Erkennen wichtiger ist als Hab und Gut, intensives Leben wertvoller als Besitzstände und Sicherheiten. Das Interesse am Menschen, das Suchen innerer Zusammenhänge, das Auffinden biographischer Fäden und deren Entwirren, es sind die Grundlagen Kühnscher Filme. Indem er eine erzählerische Attitüde das Bildmaterial organisieren läßt, verwandelt er Ausgesuchtes zu Exemplarischem und Exemplarisches zu Sinn.

Nahezu ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis die Wahrnehmung eines außergewöhnlichen Lebens wie jenes des Wanderpropheten Gusto Gräser die Chance bekam, in die modernen Medien vorzudringen. Längst überfällig, weil sich hier eine in Deutschland beispiellose Gestalt zeigt. Das Leben eines Outsiders, vorsichtig kristallisiert, in knappen Szenen gebündelt, an wesentlichen Punkten berührt und dort versuchsweise gedeutet. Kühn nähert sich umsichtig Einem, den man nicht fassen kann, weil er sein Ichmichlein derart in den Hintergrund gedrängt und damit das Zivilisationsprodukt einer über alles herrschen wollenden Egomanie, den Menschen der Moderne, kategorisch verweigert hat. Einem, der im Abseits blieb, weil er die Dinge der Welt nicht als die Dinge der Menschen betrachten wollte und konnte und so konsequent auf fast jeden Besitz, auch auf die Wirklichkeitsannektion durch Konzept, Lehre, Ismus oder Religion, verzichtet hat. Einem, der nicht deutlicher vorhanden zu sein gedachte als in dem Spärlichen, was er als Dichter und Wortverliebter, als Wortforscher und Wortfinder in Reden oder auf ein paar Blättern vereinzelten Menschen (und am Ende schließlich dem Wind) anvertraut hat.

Unauffindbar bislang für die meisten Zeitgenossen, nicht nur weil inhaftiert, ausgewiesen, mundtot gewünscht und gemacht, belächelt und heruntergespielt, sondern auch, weil in seiner eigenen Landschaft, dem vom Leben durchpulsten Selbst, für den Normalbürger nicht zu verorten und deshalb kaum aufzusuchen. Damals nicht und heute nicht. Und ist es nicht der Zivilisationsmüll und der Lehm der Kompromisse, die den Weg versperren, dann ist und war es die Angst. Gründe ihn nicht wahrzunehmen, gab es schon immer. Auch heute ist man zugekleistert, umgarnt und umwickelt, in Falschwelten gefangen. In einem Kokon, den die moderne Zivilisation um das Individuum spinnt.

Daß es Gründe gibt, die für ein über das Registrieren hinausgehendes Wahrnehmen sprechen, arbeitet der Film von Christoph Kühn heraus. Im Eigentlichen erzählt er aber die Geschichte Gräsers. In chronologischer Folge werden die Schichten seiner Lebensstationen abgetragen, oft durchwebt mit Originaltexten, in wundervoller, mit dunklem Timbre vorgetragener Rezitation von Rainer Zurlinden. Historisches Fotomaterial, darunter auch bislang kaum bekanntes, Gräser-Zeichnungen, stille, bisweilen fast meditative Bilder (beispielsweise aus Arcegno, der Thebais des Hermann Hesse) und erzählende Passagen aus der Jetzt-Zeit finden sich und korrespondieren miteinander, ordnen sich scheinbar mühelos. Die Gesprächspartner im Film: Hermann Müller, Verwalter des Gräser Nachlasses, Jörg Rasche (Psychologe, der hauptsächlich zu Hermann Hesse und dessen Thema der Individuation gearbeitet hat) sowie direkte Nachkommen Gräsers (Tochter und Enkelin), schließlich ein Freund aus seinen Münchner Tagen, Julius Kirchner. Kühn läßt sie auftreten wie Erzähler. Es ist ja eine Reportage aus einer fremden Welt. Eine Welt, die das kleine Enkelkind schon im Geiste vorsorglich vor ihren Freundinnen zu rechtfertigen versucht, als der rauschebärtige, langhaarige, leinengeschürzte Großvater Gusto in Berlin-Tempelhof plötzlich vor der Türe steht. Eine Erscheinung. Das sind liebenswerte menschliche Details. Wenn die 93jährige Heidi Christeller-Gräser von ihrer Kindheit in Ascona erzählt, von einem frühen unvergessenen und unvergeßlichen Glück, nachdem kurz zuvor alte Fotos eingeblendet waren, auf denen sie mit ihren Geschwistern nackt durch die Fauna Asconas ringelreiht. Das berührt. Das läßt alle Germanistik und literaturwisssenschaftliche Bedeutungsschwere vergessen, mit denen Gusto Gräser in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich begegnet wurde. Scheiß auf die Wissenschaften, da gab es echtes und einzigartiges Kinderglück. Da gab es einen liebenden Vater, der die Kinder von Schule und gesellschaftlicher Pädagogik verschonte. Um der Kinder willen! Kühn holt damit, so schwierig es bei der schütteren Spurenlage auch ist, Gräser zurück ins Leben.

Dort soll er auch bleiben. Sein grundlegendes Anliegen, so erzählt Julius Kirchner, war das Leben, das Lebendige. Und er hoffte auf jenen „Lebe-Mann“, der keine Angst davor hat. Fast fünfzig Jahre nach dem physischen Tod ist Gusto Gräsers Bewusstsein noch immer lebendig und sein Leben macht noch immer Mut denjenigen, die freiwillig in einer Welt des Überflusses sich bescheiden aus Respekt und Demut. Bewußt Sein – sein Thema und seine Wirklichkeit haben Gusto überlebt.

Christoph Kühns Film überrascht. Es ist ein angemessenes, gelungenes Portrait, es ist ein stiller, leiser, gelungener Film. Bei aller Kürze: Nichts fehlt, es ist mehr da als zuvor.

Frank Milautzcki