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Ein exotischer Priester
Von Adolf Grohmann, 1904
 

Wir kommen jetzt zum Gusti, dem Poeten und Künstler der Externen. Er ist etwa Mitte der Zwanziger, aus Siebenbürgen. Er hat eine Abneigung gegen das Wohnen in Häusern und gegen den Gebrauch von Geld. Eine Zeit lang hat er in jenen kleinen Gebetsnischen und Kapellen von etwa einem Quadratmeter Bodenfläche übernachtet, die dort, in katholischer Gegend, häufig sind. Später hat er sich eine ständige Wohnung zugelegt. Zu ihr gelangte er auf folgendem Wege.
Die Bewohner eines sehr armen und sehr kleinen Dorfes in der Nähe von Ascona [Arcegno ] mochten sich wohl auch vegetarische Ansiedler wünschen. Vielleicht in Erwartung, dass Einer den Andern nachzieht, wie es in Ascona war, ging die Gemeinde auf den Vorschlag ein, den ihr der Gusti machte. (Die Leute dort haben ihn auch sehr gerne.) Sie traten ihm ein Stück des Gemeindebodens als bleibende Wohn- und Pflanzstelle ab und ein Dokument stipulierte die Bedingungen. Gusti wollte keine Schenkung. Er ist gegen Privatlandbesitz.
Auf seinem Lande haust er in einer malerischen Felsenspalte. Ich liebe das Herbe, sagte er mir am Wege zu seinem Heim. Dort erblickte ich ausser einigen Decken auf dem Boden nichts einer menschlichen Spur ähnliches als einen kleinen Trog aus vier flachen Steinen gebildet, in der Grösse etwa eines Zigarrenkistchens. Er enthielt Obstkerne. Er hebt die bei seinen Obstmahlzeiten verbleibenden auf und verwendet sie bei Gelegenheit seiner Spaziergänge in der Umgebung: er streut sie aus am Wege und rechnet auf den Genuss und Vortheil, den die aus den Kernen wachsenden Obstbäume dem durstigen Wanderer am Wege bieten werden.
Er ist gelernter Kunstschlosser und ein sehr talentierter Mann mit vielen originellen künstlerischen Ideen und Fertigkeiten. Das Stirnband, dessen Erfinder und erster Benutzer er ist, ist bei ihm von Leder und hat einen kronen- oder diademartigen Zuschnitt. Ein grüner oder brauner Mantel aus einem viereckigen Stück Tuch mit einem Loch in der Mitte für den Kopf, geben ihm ein durchaus echtes und distinguirtes Aussehen.
Als ich ihn vor Jahren zum erstenmal, -19 Jahre alt, aber älter aussehend, in Zürich sah, und nach dem Zweck der Lederkrone frug und von den kurzen Hosen sprach, sagte er: Das ist keine Krone, sondern ein Riemen zum Zusammenhalten meiner langen Haare. Ich gab dem Ding nur eine zierliche Form und was die Hosen betrifft, so gesteh ich Ihnen offen, dass mir die Elefanten-Facon bei unserer Männerkleidung wenig gefällt.
Er anerbot sich auf meine Bitte, mir das Wesentliche seiner Weltanschauung schriftlich auszuarbeiten. Vielleicht nicht Alles, aber vieles davon würde auch ich gutheissen. Er brachte mir den Text: "Baue neben das Böse das Edle und Gute." Alles Übrige folgere sich hieraus, setzte er mündlich hinzu.
Die Sandalen, seiner Erfindung und Mache, sind aus Seil geflochten. Oder er trägt Holzschuhe von sehr zierlicher Form, die er, genau seinem Fusse angepasst, aushöhlt, mit einer kokett nach oben gerichteten Spitze, die beste Sohlenform genau nach Versuchen festgesetzt. Er ist auch der Verfasser eines Projectes zu einem grossartigen elliptischen Bau, einem Wahrheitstempel, der aber aufgegeben wurde. Er arbeitet sehr geschickt in Eisen, Holz, Leder, Seilwerk etc., und hat (in seinem18. Bis 20.Jahre) interessante Bilder in Oel gemalt, die in der Composition einfach und gross gedacht sind. Da wirkt er mit grossen Massen, unter Vermeidung alles Kleinlichen und Conventionellen und aller Lückenbüsser. Er will Stimmungen und Ideen wiedergeben. Viel Allegorie. Die Landschaft bevölkert er mit nur wenigen Menschen oder Thieren im Mittelgrund. Das Meiste ist ernst, ruhig, abgewogen und mit wenig Bewegung, in einfachen Linien. (Leider sind die Sachen weit verstreut).
Trotz jugendlichen Alters hat er schon vielerlebt, beobachtet und nachgedacht. Er überlegt Alles. Seine Verweigerung des Fahneneides als Rekrut in seinem österreichischen Vaterlande hat ihm zwar eine Festungsstrafe eingebracht, aber sein Benehmen führte ihm die Achtung und die Neigung seiner Vorgesetzten und Kameraden zu. Ich weigere mich zu töten, hatte er erklärt.
Gelegentlich geräth er auf Widerstand bei seinen Mitmenschen, da er immer wieder versucht communistische Beziehungen anzuknüpfen. Bei diesen Versuchen lässt es zum Theil die Geringfügigkeit der Objecte, besonders bei der Natürlichkeit im Auftreten des jungen Mannes, in den wenigsten Fällen zu einem energischen Proteste auf Seiten der Geworbenen kommen, und zum Theil bewegt sich sein Communismus in den Formen, die die Gesellschaft seit den grauesten Zeiten gekannt hat. Mein junger Freund verhilft sich gelegentlich zu einer Mahlzeit etwa durch Warten bei einem seiner sehr vielen Bekannten, bis etwas kommt, oder so, dass er an der Haustüre eines Wohlhabenden anläutet, die Magd um ein abgelegtes Stück altes Brot bittet, die Erfahrung macht, dass er meist frisches und zum Brot oft noch Zulagen erhält und von der Neugieriggewordenen durchaus nicht hart behandelt wird. Da mag er wohl meist als interessanter Pilger ins gelobte Land oder (trotz seines Germanenkopfes) als irgend ein exotischer Priester gelten: Ein sehr guter, milder, nachdenklicher Gesichtsausdruck, eine tiefe weiche Stimme, ruhiges Sprechen, langes, unbedecktes, dunkelbraunes Haar, Sandalen, der wallende Mantel mit dem aufgenähten Epheublatt auf der Brust.
Ein Handwerker berichtete mir: Er sei mit seiner Frau und seinen Kindern zu Hause am Tische sitzend vom Gusti aufgesucht worden im Auftrag einiger Ansiedler, die ihm eine Arbeit bestellen wollten. Auf dem Tische lag ein Laib Brot. Er setzt sich zu uns, beginnt seinen Auftrag zu erledigen, zieht sein Messer hervor und bedient sich des Brotes.
Bei seinem letzten Besuche bei mir in Zürich traf er meine Magd allein im Hause. Sie kannte ihn nicht. Er nahm ein breites Sopha in Beschlag und erklärte, dass das ein prächtiger Platz zum Uebernachten für ihn sei. Eine lange Unterhaltung, aber kein böses Wort ist dabei gefallen – dem Gusti wird eben Niemand bös - , und noch heute, ein Jahr später, schildert mir die Schwäbin die Begegnung mit einem Ausdruck, als wär ihr diese Erinnerung ein Geschenk des Himmels.
Vielfach verdingt er sich gegen Kost aber ohne Lohn bei seinen Genossen oder er malt gegen Kost oder er ist sonstwie bemüht, die Verwendung von Geld möglichst zu umgehen und doch den Lebensunterhalt zu verdienen.
Er hat vor, sein Felsenheim zwar klassisch einfach, aber doch malerisch und gemüthlich auszugestalten aus allerhand Siebensachen, und dann eine Lebensgefährtin zu suchen, ein braves und schönes Felsenweib, das er gewiss noch finden wird, denn er ist ein schöner Mann und von der grössten Liebenswürdigkeit, offen, wahr und treu. An ihm ist alles echt und eigen, und ein reges, tiefes Gemüthsleben liegt in ihm.
Als ich mich auf alle Fälle zum künftigen Gevatter in Vorschlag brachte, wurde mit Dank abgelehnt: Die Natur kenne keine Taufe. - Aber ich freue mich doch schon auf das Bild, das entstehen wird, wenn sich die kleinen Heiden einstellen werden und es sich regen wird hinter dem Gestein.
Die Höhlung liegt zwischen zwei hausgrossen, gegeneinandergeneigten Blöcken, knapp neben einer grossen Felsenwand, in einer vegetationsarmen, rauhen Gegend, die an die heroischen Landschaften von Preller und auch von Gustav Doré erinnert. Ein paar dicke, alte, verwitterte Edelkastanien mit ausgehöhlten Stämmen, nichts Lebendes als höchstens gelegentlich eine Ziege, die das spärliche Gras absucht. Hier, etwa eine Stunde nordwestlich von Ascona, drin im Gebirg, wird vielleicht eine Abtheilung für Höhlenbewohner, Einsiedler, Säulenheilige etc. entstehen. Diese stilleren Gäste werden dem Gusti nicht "die Landschaft verschandeln".
So dürften der armen Gemeinde vielleicht nur arme Vegetarier, aber dafür der rauhen Landschaft dieser unwirtlichen Gelände eine höher geartete Staffage zufallen. Weiter westlich liegen noch schöne Triften und schwermütig-poesievolle Haine, wo sich Faune, Nymphen und Kentauern niederlassen könnten. Hier wird sich das Leben meines Freundes abspielen und sein Schönheitssinn wird vor jenen Anblicken bewahrt bleiben, die ihm draussen in der Welt so wehe tun, - - - d. h. wenn er nicht doch wieder auf Reisen geht. Der unbequeme Zugang ins Gebirg wird ihn vor einer grösseren Zahl Neugieriger bewahren. Vom Carl [seinem Bruder] hat er gehört, dass ich über die Ansiedlung etwas veröffentlichen wolle. Er schreibt mir, verhöhnend mein Unterfangen: Ja, malen Sie nur Ihr Bild, denn es ist ja doch nur Ihres wie eben klar oder wie gebrochen verzerrt Ihr Spiegel dies Bild gerade auffangen kann. Lässt sich ein Werden überhaupt fassen? Doch nur zu. - Ich freue mich alles fröhlichen Treibens.
(Welcher Contrast mit folgendem Brief, den ich aus dem gleichen Anlass erhielt. Ida schreibt: monte verità 12.11. 03. – liber groman! ir beginen ist wirklich lib etc. - - - und: ir forhaben freut uns und – dint uns. Wir danken im foraus. Herzlichst ida hofman-oedenkoven – henri komt wol sontag über zürich, werde in feranlassen, si wen möglich zu besuchen.)
In einem früheren Brief schreibt der Gusti (über neu entstandenen vegetarische Niederlassungen) von „diesen kecken Regungen, die, wenn auch nur Versuche, doch so Manchen erwärmen. Sie bringen Muth in unsere feige Zeit und Leben in die Bude. Ich höre gerne von diesen Aufrührern und Empörern, die ein wenig Fluss in die träge Masse bringen.“
Adolf Grohmann: Die Vegetarier-Ansiedelung in Ascona und die sogenannten Naturmenschen im Tessin. Halle a.S. 1904, S.26-32.