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„Wenn der Schnee ans Fenster fällt … „

Zu einem Gedicht Georg Trakls

Georg Trakl
(* 3. Februar 1887 in Salzburg; † 3. November 1914 in Krakau, Galizien)
war ein österreichischer Dichter des Expressionismus mit starken Einflüssen des Symbolismus.

 

Ein Winterabend

 

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,

Lang die Abendglocke läutet,

Vielen ist der Tisch bereitet

Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft

Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.

Golden blüht der Baum der Gnaden

Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;

Schmerz versteinerte die Schwelle.

Da erglänzt in reiner Helle

Auf dem Tische Brot und Wein.

 

Die zwei letzten Verse der zweiten Strophe und die dritte Strophe lauten in der ersten Fassung

(Brief an Karl Kraus vom 13. 12. 1913):

 

Seine Wunde voller Gnaden

Pflegt der Liebe sanfte Kraft.

O! des Menschen bloße Pein.

Der mit Engeln stumm gerungen,

Langt, von heilgem Schmerz bezwungen,

Still nach Gottes Brot und Wein.

 

(Vgl. die Schweizer Neuausgabe der Dichtungen von G. Trakl, besorgt von Kurt Horwitz, 1946.)

Der Winter                            Aquarell von Ernst H. Graeser

Gusto Gräser erzählte meinem Freund Julius Kirchner, er habe auch Trakl besucht. Dem sei aber nicht mehr zu helfen gewesen.

Mehr ist nicht bekannt. Das einzige Nähere, was wir dieser Aussage entnehmen können, betrifft den Zeitpunkt und das Ergebnis dieses Besuchs. Er muss nicht allzu lange vor Trakls Ende geschehen sein, als die Katastrophe sich schon abzeichnete, mithin in den Jahren 1913/14. Gräser wollte ihm helfen, wollte ihn aus seiner Verzweiflung ziehen, aber der in sich selbst Ertrinkende war nicht zu retten.

Gibt es Spuren dieses Besuchs in Trakls Biographie, in Trakls Dichtung? Tritt da vielleicht ein Wanderer auf, einer von der Art Gusto Gräsers?

Gewiss. Es ist eines der schönsten und mit Recht berühmtesten Gedichte Trakls, in dem eine solche Gestalt uns vor Augen gestellt wird. Und während sonst die traumhaft-wahnhaften Stimmungen des Dichters alles Außen zugleich glühend und schattenhaft werden lassen – schwebende Szenerie eines Traums im Hauch der Verwesung - , lässt diese Text – darin allein schon hebt er sich heraus aus seiner Umgebung – klar, kühl und nüchtern ein objektives Geschehen erkennen, eine Person, eine Tat, bestimmbar in Raum und Zeit. Umso mehr so, wenn man die erste Fassung und die Entwurfsvarianten sich vor Augen führt.

Ein Winterabend. Es schneit. Die Abendglocke läutet. Ein Wanderer tritt herein, langt, „von heiligem Schmerz bezwungen“ nach dem, was auf dem Tisch steht: Brot und Wein.

Ein ausgehungerter Bettler, möchte man meinen: „O! des Menschen nackte Not“ – so im Entwurf. Aber dies ist kein Bettler der üblichen Art, auch kein erschöpfter, verirrter Tourist, sondern einer, „der mit Engeln stumm gerungen“ – wie Jakob. Ein „Gottesmann“ also. Sein Schmerz ist ein heiliger Schmerz, die Wunde seiner nackten Not ist „voller Gnaden“.

Man hat die Szene meist auf Jesus und auf das Abendmahl hin gedeutet. Aber der hier eintritt, ist nicht selbst Brot und Wein – er langt nach Brot und Wein; er gibt nicht „der Liebe sanfte Kraft“ (Entwurf) - er braucht der Liebe sanfte Kraft: ganz konkret, in der Form eines sättigenden, wärmenden Essens.

Er ist nicht mystische Gestalt, er „langt … in den weißen Arm dem Tod“ (Entwurf). Gemeint ist: in den Arm dem weißen Tod. Dieser Mensch ist, ganz konkret, dem Erfrieren nahe. Brot und Wein retten ihn: nicht metaphorisch, nicht religiös, ganz leiblich.

Und doch ist hier mehr ausgesagt als eine Rettung aus leiblicher Not. In der zweiten Fassung dringt der Dichter zu einer tieferen Schicht und Sicht der Szene durch: Da ist ein Wanderer, dessen Schmerz heilig, dessen Wunde oder Blöße „voller Gnaden“ ist, weil er mit Engeln, mit sich selbst gerungen hat - bis zu einem Schmerz der Überwindung hin, der die hölzerne Schwelle zu Stein werden, ja, der Brot und Wein „in reiner Helle“ erglänzen lässt.

Dass hier die Ehrfurcht vor der Menschlichkeit eines Menschen die Dinge aufleuchten lässt, bestätigt Trakl selbst in seinem Begleitschreiben an Karl Kraus vom 13. Dezember 1913. Die Verse seien entstanden „als Ausdruck der Verehrung für einen Mann, der, wie keiner der Welt ein Beispiel gibt.“

Ganz abgesehen von dem Präsens: „der … ein Beispiel gibt“ – so spricht kein gläubiger Christ von Jesus, dem Gottessohn. Der kann auch kaum als der Hungernde und Frierende gedacht werden, der „nach Gottes Brot und Wein“ langt. Noch weniger kommt Trakl selbst in Betracht, der ja von sich sagt, dass er „in diesen Tagen rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie“ seiner Verehrung für einen Anderen Ausdruck geben wollte.

Aber wer ist dieser Andere, wer der „heilige“ Wanderer, der in den eisigen Tagen des Dezembers 1913 an Trakls Tür gepocht hat?

Keine Frage ist, dass  das Bild, wie es Trakl von dem Unbekannten entwirft, auf Gusto Gräser wie auf kaum einen anderen passt. Wir wissen zudem, dass dieser Dichter „auf der Wanderschaft“ den mit sich zerfallenen Lyriker besucht hat. Aber gibt es – außer dem groben Zeitraum – nähere Hinweise darauf, dass dies im November oder Dezember des Jahres 1913 geschehen sein könnte?

Es gibt sie in der Tat. Sie bezeichnen Möglichkeiten und mehr noch: hohe Wahrschein-lichkeiten.

Am 2. November 1913 hält Gräser seine letzte „Waldandacht“ im Bopserwald von Stuttgart, „bei der Schillereiche“. Ein späteres Auftreten in diesem Jahr wird nicht mehr angekündigt, ist auch aus Witterungsgründen unwahrscheinlich. Könnte Gräser in dieser Zeit nach Tirol gereist, gar gewandert sein? Welche Gründe dafür hätte er haben können?

Er war damals intensiv mit seiner Nachdichtung des ‚Tao Te King’ von Laotse beschäftigt. Im Sommer 1913 hatte er Teile daraus in einem Lokal der Stuttgarter Königsstraße erstmals öffentlich vorgetragen. Er war zugleich ein Verehrer Walt Whitmans, dessen Kamerado-Pathos er in seine Dichtung übernimmt. Und er war zu dieser Zeit eng befreundet mit dem Stuttgarter Rechtsanwalt und späteren „Christrevolutionär“ Dr. Alfred Daniel, einem Kierkegaard-Verehrer, der einige Jahre später schreiben wird:

(Emil) Gött wiederum reicht die Freundeshand dem Kameraden treu – Walt Whitman und seinen beiden unter uns lebenden Brüdern Gusto Gräser und Carl Dallago. All das sind Menschen geschlossener Polarität, nicht leidzerrissen wie Tolstoj oder Dostojewski, nicht Kranke, nicht Verzweifelte, nicht Verlorene, aber der Glanz der Gotteskindschaft ruht auf ihrem Leben und irgendwie sind sie Brüder Jesu.  …

Nicht zufällig ist, dass sowohl Dallago als Gräser sich Laotse als ihren geistigen Urahn erlesen haben. Beide haben den Tao te King ins Deutsche übertragen.

Zu Dallago schreibt Otto Basil in seiner Trakl-Biographie,

dass der Dichter (Trakl) in seinen letzten zwei Lebensjahren … in den Bannkreis der Innsbrucker Halbmonatsschrift „Der Brenner“ (1910-1954) kam. „Der Brenner“ war … eine kleine kämpferische Zeitschrift der expressionistischen Literaturavantgarde vom Schlage des „Sturm“ und der „Aktion“ … (die) … in der Person des Dichterphilosophen und Tao-Übersetzers Carl Dallago (1869-1949) einen Mitarbeiter besaß, der ein leidenschaftlicher Verfechter eines ethisch revolutionär gesinnten Christen-tums und ein ebensolcher Gegner des konventionellen, verweltlichten Kirchenchristentums, vor allem der Römischen Kirche, war. Dallago soll es auch gewesen sein, der Trakl mit Kierkegaards Schriften vertraut gemacht hat.

(Otto Basil: Georg Trakl, S. 11f.)

Kürschners Literaturlexikon kennzeichnet Dallago weiterhin als einen “sehr naturver-bundenen” Lyriker und Philosophen, der “Aphorismen im Geiste Nietzsches und Whitmans” verfasst habe.

Wer Gräser kennt, der weiß, dass nahezu alle diese Charakterisierungen auch auf ihn, den Wanderer und Dichter zutreffen. Nietzsche, Whitman, Laotse – das waren auch seine Sternbilder. Der Kenner weiß auch, dass sein enger Freund und Mitstreiter Alfred Daniel eben jenes revolutionäre Tatchristentum im Sinne Kierkegaards gelehrt und nach dem Krieg in seiner „Christrevolutionären Bewegung“ zu verwirklichen gesucht hat, für das auch Dallago eintrat. Der einstige Rechtsanwalt ging, nachdem er wegen Kriegsdienstverweigerung sein Anwaltspatent verloren hatte, ins Zuchthaus von Ludwigsburg – als Helfer und Berater der Gefangenen.

Im Jahre 1913 war von Dallago ein Jesus-Buch erschienen. Vermutlich waren im „Brenner“ auch erste Nachdichtungen Laotses aus seiner Feder gedruckt worden. Dallago hatte Laotse im Frühjahr 1911 für sich entdeckt, also etwa gleichzeitig mit Gusto Gräser, seine dichterische Umsetzung hat er im Dezember 1914 abgeschlossen.

Doppelter Anlass also für Daniel und Gräser, nach Innsbruck zu schauen. Da war offenbar ein Bruder im Geiste aufgetaucht, ein Bruder im Geiste Nietzsches-Whitmans-Laotses und eines als Praxis verstandenen Christentums. Und wenn man weiß, dass es immer schon Gräsers Art gewesen war, geistesverwandte Menschen aufzusuchen, bei ihnen anzuklopfen, sich ihnen vorzustellen, auch dann, wenn er weite Strecken zurück-zulegen hatte, dann wird man kaum zweifeln, dass es für ihn im Dezember 1913 kein Halten gab, sei es auch durch Kälte und Schnee, diesen unbekannten Freund im fernen Tirol aufzusuchen und kennen zu lernen.

Dallago aber wird ihn auf Trakl hingewiesen haben: Hier sei ein Dichterkollege in seelischer Not, und wenn überhaupt einer, dann werde ihn einer wie er, dieser Optimismus und Lebenskraft ausstrahlende Wanderer, aus seiner Lethargie heraus-reißen können.

Wir wissen, durch Gräser selbst, dass der Versuch missglückt ist. Geglückt aber, in seinem Widerschein, ist ein Gedicht.

Es könnte sein, dass dies nicht die einzige Spur jenes Zusammentreffens geblieben ist. Denn in unmittelbarer Nachbarschaft jenes Briefes an Karl Kraus, in dem Trakl die Erstfassung von ‚Ein Winterabend’ mitteilt, steht ein anderer Brief, der das Zeugnis eines seelischen Zusammenbruchs enthält. Die Herausgeber haben ihn wohl nicht ohne Grund vor den Kraus-Brief gestellt.

Es ist, nach Basil, die Stimme aus einem „Inferno, das bis heute mysteriös geblieben ist“ (S. 132). „Mein Leben ist in wenigen Tagen unsäglich zerbrochen worden“, schreibt Trakl an Ludwig Ficker. „Ich weiß nicht mehr ein und aus. Es (ist) ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht. O mein Gott, welch ein Gericht ist über mich hereingebrochen … wie klein und unglücklich bin ich geworden.“

Es liegt nahe, wie es auch die Herausgeber tun, einen Zusammenhang anzunehmen zwischen diesem Zusammenbruch und jenem Gedicht, das heißt, zwischen dem Wanderer, der über des Dichters Schwelle tritt, und der Erschütterung, die ihn zusammenbrechen lässt.

Er ist zerbrochen an Einem, der stärker war als er. Er ist sich seiner Kleinheit und seines Unglücks bewusst geworden neben einem, der so viel größer und glücklicher war als er. Ohne es zu wollen, war der Wanderer, „der wie keiner der Welt ein Beispiel gibt“, zum Gericht geworden über ein Leben, das „in rasender Betrunkenheit und verbrecherischer Melancholie“ sich selbst verzehrte.

„Den Anlass zu diesem Verzweiflungsausbruch hat Trakl nie preisgegeben“, schreibt Otto Basil (S. 133).

Spricht er nicht, genügend deutlich, aus seinem Gedicht?