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1909 Pforzheim

Die sittliche Polizei

Die Pforzheimer Polizei hat sich über die Pfingstfeiertage wieder ein Stückchen geleistet, das in weiten Kreisen Befremden erregen muß, aber ganz den beschränkten Geist atmet, der das Auge des Gesetzes nun mal aus alter Tradition auszeichnet. Der „Pforzheimer Anzeiger“ berichtet:

Am Samstag Nachmittag stattete der Vorkämpfer einer naturgemäßen Lebensweise, Gusto Gras, unserer Stadt von Stuttgart aus einen Besuch ab. Gras, mit dem sich erst kürzlich ein längerer Aufsatz von Johannes Schlaf in der „Frankf. Ztg.“ befaßte, ist der Sohn eines Siebenbürger Richters und von Beruf Maler, zugleich hat er sich auch mit Kunstschlosserei befaßt; er besitzt eine philosophisch tiefe Bildung, spricht mehrere Sprachen und ist auch als Dichter hervorgetreten. Seinen Anschaungen gemäß verwirft er die Kleidung der heutigen Kulturmenschheit und trägt über dem Hemd einen buntfarbigen Ueberwurf; an seinen Bart läßt er kein Schermesser kommen, ebensowenig auf sein Haupt, so daß ihm die dunkelblonden, gepflegten Haare bis auf die Schulter wallen. Leider kannte man den Fremdling in Pforzheim nicht, so daß er hier recht übel empfangen wurde. Während ihm die Jugend johlend nachsprang, verlangten Erwachsene, daß die Polizei gegen ihn einschreite. Da Gusto Gras sich nicht genügend legitimieren konnte, wurde er schließlich über Nacht in polizeilichen Gewahrsam genommen. Am ersten Feiertag wurde ihm dann eine kurze Frist gesetzt, innerhalb welcher er das „ungastliche Pforzheim“ verlassen mußte. Gras, der sich ohne Widerstand in sein Schicksal gefügt hatte, kehrte nach Stuttgart zurück, wo er im Atelier „Schwabe-Kunst“ sich aufhält.

Wenn die hiesige Wohllöbliche alle Fremden in polizeilichen Gewahrsam nehmen wollte, die sich vorübergehend hier aufhalten und „nicht genügend legitimieren“ können, dann wären nicht genug Arrestlokale vorhanden und unsere Stadt, die sich ohnehin nicht über einen allzugroßen Besuch durch Fremde zu beklagen hat, wäre bald so gemieden, wie eine Pesthöhle. Man sieht aber offenbar mehr auf einen hohen Stehkragen bei Verurteilung der Person und hält demgemäß jeden, der in seiner Kleidung einem Proleten ähnelt, von vornherein für einen Spitzbuben. Man sollte meinen, was in Stuttgart von der Polizei unbehelligt bleibt, sollte es auch in Pforzheim sein. Eine entsprechende Anweisung aus dem Haus an der Bahnhofstrasse an die Gesetzeshüter dürfte nicht schaden.

Der Volksfreund (Stuttgart), 29. Jahrg., 7. Juni 1909, Nr. 129, S. 4. Online: Die sittliche Polizei.