Brieflein Wunderbar

Der Philosophiestudent Julius Kirchner, genannt Jul brachte 1956 einen Packen Abschriften von Gräsers Gedichten nach Bad Boll zu Hermann Müller – die erste größere Auswahl aus seinem Werk. Hermann machte sich sofort daran, die Vorlagen abzutippen und mit einem primitiven Abziehapparat zu vervielfältigen. Daraus bastelte er ein kleines Bändchen, mit einer Schnur gebunden, das er an Gusto nach München schickte: „ein erster Gruß aus unserer Werkstatt“. Gusto Gräser, wenig erfreut, schleuderte das gutgemeinte Machwerk im Café an die Wand. Der unreife Bengel hatte sich erlaubt, die Verse des Meisters zu „verbessern“! Gräser war aufbrausend in seinem Zorn, aber nicht nachtragend. Wenige Wochen später erreichte die beiden Adepten eine dicke Postsendung in feuerrotem Umschlag: das ‚Brieflein Wunderbar‘. Dieses Langgedicht von 35 Seiten war seine Antwort auf den Besuch der beiden schwäbischen Studenten. Sie hatten ihn daran erinnert, dass er einst in Stuttgart seine besten Freunde gehabt hatte: den Rechtsanwalt Alfred Daniel, den Maler Willo Rall, den Buchhändler Emmanuel Krauß, der sich als Dichter Georg Stammler nannte, und den blutjungen Kaufmann Friedrich Lamberty, den alle, weil er so klein gewachsen war, nur Muck nannten. Auch der Journalist Theodor Heuss, der später einmal Bundespräsident werden würde, soll am Rande zu dieser Freundesbande gehört haben.

In Stuttgart war Gräser jahrelang aufgetreten, hatte im Bopserwald bei der Schillereiche seine Sonntagsreden gehalten, die Menschen aus dem ganzen Land anzogen. In Stuttgart, genauer: in der kleinen Gartensiedlung Falterau bei Degerloch, war er glücklich gewesen mit seiner Frau und den Kindern. Freilich: er wurde 1915 ausgewiesen, nach Österreich verschleppt. „Wie ein König hat er unter den Schergen gestanden“, schrieb damals ein Freund auf Flugblättern. „Heil dem deutschen König!“ Damit war nicht etwa Kaiser Wilhelm gemeint sondern sein Gegenkönig Gusto Gräser. Der greise Dichter Christian Wagner sprang ihm bei: „Ich kann an keine deutsche Zukunft glauben, solange der Landjägergeist bei uns herrscht“. Eine zweite Ausweisung folgte 1920.

Nun also wollte der Vertriebene zurückkehren. Aus den jungen Studenten vernahm er einen Anruf: Du sollst noch einmal auf die Bühne treten! Er wendet sich an die Stadt Stuttgart und an die „Schwaben im Wirtemberge“. Sie seien berufen, eine kulturelle Wende herbeizuführen: „Erdsterns Dochblütezeit“. Wie schon 1913 bis 15 beruft er sich dabei auf Schiller, den schwäbischen Rebellen, den Dichter der Freiheit. „Ist doch nit tot!“ Stuttgart müsse der „Gutstart“ werden für einen „Frohgeisterstreit“ – und die beiden Studenten sollten diese Botschaft überbringen. Es wird dann mehr als fünfzig Jahre dauern, bis Hermann Müller im Jahre 2012 den Stuttgartern und den Schwaben die gräsersche Erwählung verkünden kann.