WIE

gelangen wir Frauen zu harmonischen und gesunden Daseinsbedingungen

?

Offener Brief

an die Verfasserin von „Eine Mutter für Viele“

von

Ida Hofmann-Oedenkoven.

* * *

Ascona, Lago maggiore 1902.

Selbstverlag.

Im Buchhandel durch den Reformverlag C. v. Schmidtz, Haimhausen.

Alle Rechte und Verantwortlichkeit behält die Verfasserin.

Druck von Karl Rohm in Lorch (Württbg.)

Ascona, Schweiz, Monte Verita, 23. August 1902.

Ich möchte Sie nach Lesen Ihrer Broschüre »Eine Mutter für Viele« auf ein Gebiet aufmerksam machen, dessen heilsamer Zukunft Sie bis jetzt offenbar fremdgegenüberstehen. Es ist dies das Naturheilverfahren, als Folge desselben, eine natürliche Lebensweise und der Vegetarismus. Wenn Sie eine natürliche Lebensweise und eine gesündere und natürlichere Kindererziehung auf vegetarischer Basis genügender Würdigung unterziehen, so können Sie es nur selbstverständlich finden, dass Mann und Frau mit dem Erwachen des Naturtriebes, also in jungen Jahren heiraten, dass die Frau hiedurch von allen traurigen Folgen der Unterdrückung dieses Naturtriebes, als: Onanie, Histerie, und der Mann insbesondere, hierdurch von selbst davor bewahrt ist, sämtliche Gebrechen einer cynischen Vergangenheit auf mehrere Generationen zu vererben.

Sie sprechen von der unumstösslichen Wahrheit eines »Ehrenkodexes«, der dem Manne Unkeuschheit gestattet. Welcher Ehrenkodex schreibt denn uns Frauen vor, für eine heuchlerische Scheintugend die unschätzbaren Güter von Gesundheit und Zufriedenheit des Gemüts aufs Spiel zu setzen? Und gäbe es einen solchen Ehrenkodex, dann beweisen Sie doch seine moralische und menschliche Berechtigung. Wenn Männer das Ehrengesetzbuch zu verfassen für gut befanden, so haben die Frauen zum mindesten das volle Recht, auch das ihrige für sich aufzustellen. Ich schalte hier einige für uns Frauen des durch Ueberkultur und Krankheit zum grössten Teile dekadenten, europäischen Menschengeschlechtes höchst lehrreiche Beobachtungen ein, welche H.Fielding im Staate Burma in Indien sammelte und in seinem Buche »the soul of the people« niederlegt. Fielding1) sagt, dass das Gesetz in diesem Lande keinerlei Unterschied zwischen Mann und Frau macht. Eherecht, Erb-und Criminalrecht behandeln Mann und Frau als gleichberechtigt. Der Verfasser hat nur eine, einzige Ausnahme entdeckt: Das Leben der Frau wird bei Bussen für Verletzung der Person niedriger eingeschätzt, als das des Mannes. Er konnte nicht umhin einen Burmanen nach der Ursache dieser Bestimmung zu fragen,welcher ihm folgenden Aufschluss gab : »Das Gesetz will keineswegs einen prinzipiellen Unterschied machen — es konstatiert nur eine Thatsache. In Geld ausgedrückt, ist eben eine Frau weniger wert als ein Mann. Ein weiblicher Dienstbote kann für geringeres Geld gemietet werden als ein männlicher; eine Tochter kann nicht so viel Entlohnung verlangen wie ein Sohn — und zwar lediglich deshalb, weil sie nicht gleich viel Arbeit verrichten kann; sie ist nicht gleich stark. Wenn die Frau mehr wert wäre, hätte das Gesetz es auch ausgedrückt, es hätte keinerlei Grund gehabt, es zu unterlassen«. — Also selbst dieser Ausnahmebestimmung liegt kein Vorurteil gegen die Frau zu Grunde, kein Dogma von der Minderwertigkeit der Frau als solcher, sondern lediglich die Thatsache, dass das Arbeitsquantum, welches die Frau liefert, weniger materiellen Wert hat, alsdasjenige, welches der Mann liefert.

Die Frau ist in Burma niemals unterdrückt gewesen ; sie konnte stets ihr Leben so gestalten, wie es ihr am besten schien. Weder die Religion noch das Gesetzhaben sie jemals zur Sklavin gemacht. Ein Gebot, wie im ersten Buch Mosis Kap. 3, 16: »Dein Wille soll deinem Manne unterworfen sein, und er soll dein Herr sein«, oder i. Corinth. 14, 54: »Euere Weiber lasset schweigen unter der Gemeinde«, gab es ebensowenig wie eine Fälschung zum Nachteile der Frau, wie sie von den Hindupriestem an der Rigveda-Stelle 10, 18, 7 verübt wurde, um die Witwen-Verbrennung als göttliches Gebot erscheinen zu lassen.

Wenn sich ein burmesisches Mädchen verheiratet, behält es seinen Namen; die burmesische Frau trägt kein Zeichen, aus dem man schliessen könnte, dass sie verheiratetist. Ihr Eigentum behält sie. Der Ehemann hat keinerlei Rechte über das Eigentum, welches die Frau mit in die Ehe bringt, kein Recht über das, was sie verdient oder erbt. Mann und Frau behalten jedes ihr Eingebrachtes. Was in der Ehe gemeinsam erworben wird, bleibt in der Regel gemeinsamer Besitz. Seltsam berührt es uns, wenn wir vernehmen, dass in diesem letzteren Falle die Namen der beiden Ehegatten genannt werden, wenn der Eigentümer bezeichnet werden soll. Fielding fragte z. B.: »Wem gehört dieser Garten?« und bekam zur Antwort: »maung hau« (Name des Gatten) und »ma schwe« (Name der Gattin).

Auch alle Schriftstücke, Kaufkontrakte, Verträge und dergleichen werden von Beiden unterzeichnet. Das Gesetz stellt die Frau absolut sicher, vor ihm ist und bleibt sie allein Herrin über alles, was sie besitzt.

Fielding sagt: »Heirat eines Mädchens bedeutet bei uns das Abbrechen alter Beziehungen, den Beginn eines neuen Lebens, neue Pflichten, neue Verantwortlichkeiten, indem sie eine Abhängigkeit mit der andern vertauscht: den Schutz eines Vaters mit dem Schutz eines Gatten. Sogar ihren eigenen Namen hat sie verloren und gilt nur noch als Frau ihres Mannes. Ihre Seele geht in der Seele ihres Mannes auf. In Burma ist dies total anders. Hier ist sie auch als Ehefrau immer noch sie selbst; immer noch Herrin ihrer selbst und lediglich eine gleichberechtigte Gefährtin fürs Leben«.

Es ist um so interessanter zu sehen, wie unabhängig sich die Frau in Burma zu erhalten gewusst hat, wenn man erwägt, dass das Gesetzbuch des Manu, das im übrigen Indien in so gewaltigem Ansehen steht, in diesen Fragen überaus reaktionär ist. Manu sagt: »Es giebt sieben Arten von Frauen: Eine Frau kann sein wie ein Dieb, wie ein Feind, wie ein Gebieter, wie eine Freundin, wie eine Schwester, wie eine Mutter, wie eine Sklavin. Die vier letzten Arten sind gut, aber die letzte ist die beste, und folgende Eigenschaften besitzt sie: sie fächelt dem Manne Kühlung zu und liebkost ihn bis er einschläft; sie sitzt auf dem Bette, auf dem er ruht, sie sorgt und wacht, dass ihn nichts störe, jeder Lärm soll ihr Schrecken einjagen, das Summen einer Mücke soll ihr erscheinen wie ein Posaunenstoss, und wenn draussen ein Blatt niederfällt, dann soll es ihr wie ein Donnerschlag in den Ohren dröhnen. Selbst den Atem, der über ihre Lippen geht, soll sie bewahren, damit er nicht erwache, den sie fürchtet. Sie soll ängstlich darauf bedacht sein, dass das Bad seiner Gewohnheit gemäss bereit steht, dass seine Kleider seinen Wünschen entsprechen, dass ihm das Mahl schmeckt. Die Furcht vor seinem Zorne schwebe immerdar über ihr.«

Hiezu bemerkt der Verfasser: »Ich glaube, dass ein burmesisches Mädchen laut auflachen würde, bei dieser Schilderung von dem Ideale einer Ehefrau. Sie würde sagen, dass er und sie armselige Geschöpfe sein müssten, wenn die Frau stets genötigt wäre in Angst zu leben vor dem Grimme ihres Mannes. Ein Haushalt werde durch Liebe und Verehrung und nicht durch Furcht regiert. Ein Mädchen beabsichtige gar nicht durch Heirat die Sklavin ihres Gatten zu werden, vielmehr ein freies Weib, das in solchen Dingen nachgiebt, in denen der Mann mehr Festigkeit hat, während sie ihren eigenen Weg auf denjenigen Gebieten geht, die zur Domäne der Frau gehören«.

Auch in Bezug auf die Ehescheidung ist das burmesische Gesetz ungemein weit voran. Jede Ehe kann ohne weiteres geschieden werden. Die Gatten erscheinen vor den Aeltesten des Dorfes und verlangen die Ehescheidung. Daraufhin wird ein Aktenstück über den Vorgang aufgesetzt und beide Teile sind frei. Jeder behält sein Eigentum, die Errungenschaft wird zu gleichen Teilen geteilt, jedoch verliert derjenige Gatte das Haus, welcher die Scheidung verlangt hat; doch wird häufig auch diese Bestimmung nicht durchgeführt, wenn das Haus nicht gerade gemeinsamer Besitz ist. Die Religion hat ebensowenig mit der Scheidung zu thun wie sie mit der Heirat zu thun hatte. Beide sind rein weltliche Dinge in Burma und werden darum, auch so behandelt, wie bei uns etwa kaufmännische Assoziationen behandelt werden.

Der Verfasser stellt nun das Faktum fest, dass die Ehescheidung trotz der Leichtigkeit, mit der sie gehandhabt wird, fast niemals vorkommt und fährt fort:»In den Dörfern und unter den bessern Burmanen aller Klassen ist die Ehescheidung eine grosse Ausnahme. Die einzige Klasse, bei der die Ehescheidung häufig vorkommt,ist jene nicht ganz einwandfreie Gefolgschaft, die sich an unsere englische Administration hängt: Schreiber, Polizisten etc. Von vielen derselben ist nur wenig Gutes zu sagen. Es ist erschreckend, zu sehen, wie demoralisierend die Engländer auf alle Leute wirken, mit denen sie in Berührung kommen. Wer zur englischen Verwaltung gehört, steht von vornherein in schlechtem Ruf.«

Dieses kostbare Geständnis nebenbei. Auf die Ehe zurückkommend, müssen wir noch erwähnen, dass Fielding ausdrücklich konstatiert, dass die Leichtigkeit derEhescheidung dazu geführt habe, die Ehegatten zu grösster Rücksicht gegen einander zu veranlassen. Diese Rücksichtnahme erklärt sich daraus, dass die Ehe keine Fessel mehr ist, sondern auf freier Uebereinkunft freier Menschen beruht. Mit folgender Erzählung schliesst der Verfasser seine Ausführungen über die Ehescheidung:

»Während des ersten burmesischen Feldzuges im Jahre 1825 wurde ein Engländer in Ava gefangen genommen und ins Gefängnis gesetzt, wo er verschiedene Europäer und Amerikaner antraf. Nach einiger Zeit wurden die Gefangenen zu zweien aneinandergefesselt, weil man befürchtete, dass sie entweichen möchten. Der Engländer berichtet, wie entsetzlich dies gewesen war und erzählt, dass wilder Hass und Widerwillen im Herzen der Gefesselten gegen ihren Genossen aufstieg. Ehe sie aneinander gekettet waren, lebten sie in enger Nachbarschaft und Frieden und Freundschaft; aber als die Ketten kamen, wurde es ganz anders, obwohl sie einander nicht näher waren als zuvor. Sie fingen an, einander zu hassen.

Und dies ist die Grundidee der burmesischen Heirat. Die Burmesen wollen eine Gemeinschaft in Liebe und Zuneigung in der Ehe haben. Wenn diese nicht mehr besteht, dann soll alles aus sein; eine unzerreissbare Ehe erscheint ihnen als Fessel, als ein Seil, als etwas hassenswertes und hasseinflössendes. Sie sind eben ein Volk, das die Freiheit liebt, sie wollen keine Fessel und kein Dogma. Es ist stets die Religion gewesen, welche aus der Ehe Ketten geschmiedet hat, aber bei den Burmesen hat die Ehe nichts mit der Religion zu schaffen. Eine Religion freier Männer und freier Frauen ist ihr Erbteil«.

Sie dürften zweifelnd einwenden, dass jenes ungleiche Kraftmass, welches die Frauen in Burma bezüglich ihrer Leistungen in ein Verhältnis der Minderwertigkeit gegenüber dem Manne bringt, auch bei uns den triftigen Grund zur Unterdrückung geliefert — gewiss. — Die Kraft des Stärkeren bleibt ein ewiges Naturgesetz, jedoch: »Unaufhaltsam rollt das Rad der Zeit«. Haben wir die Ausartung dieses Gesetzes und in seinen Folgen die Ausbeutung erkannt, unter welcher wir leiden, so ist uns auch die Fähigkeit gegeben, uns zu erheben und das Uebel mit der Wurzel auszurotten. Schaffen wir ein stärkeres, gesünderes Kindergeschlecht, erhalten wir es rein vor Krankheit und frühzeitigen Tod bringenden Einwirkungen des Genusses von Tierleichnam, Alkohol und anderen Giften wie Nikotin, Kafein, Tein, frei von Reizmitteln wie Salz, Pfeffer, Paprika u. s. w. und all jenen körperbelastenden Künsten der sogenannten »gemischten Kost«; erziehen wir es fern von verpesteten Schulräumen, in denen es jahrelang, der Gesundheit und einem reinen Sinnesleben zum Hohn, in gedrängtester und unfreiester Form einen ungeheuren Balast von Wissen und Wissenschaft in falscher, vorurteilsvoller Anwendung in sich aufzunehmen genötigt wird; erziehen wir es in enger Fühlung mit der Natur, in welche wir zur vollen Bethätigung unserer Kräfte gesetzt sind — dass die Natur zu ihm spreche und es von der Natur lerne! Drängen wir es nicht, aus Interesse, Abstammungs- oder Standesdünkel in irgend eine, den Eltern passende Laufbahn, ohne, in erster Linie auf die individuellen Fähigkeiten des Kindes Rücksicht zu nehmen oder ihm vielmehr in freier Entwicklung freie Wahl zu lassen, sondern weisen wir ihm die Möglichkeit, sein Leben in praktischer und sozial sittlicher Arbeit selbst zu zimmern. Die an Stubenbeschäftigungen und Kinderwartung, an althergebrachte Sittsamkeitsvorschriften, sowie an Regeln zur Förderung und Erhaltung der Schönheit (durch Corset, Modefesseln) gebundene Lebensweise der Frau muss sich ändern und in demselben Maasse als sie durch muskelstärkende Beschäftigungen an Kraft zunimmt, wird sie sich jene Gleichberechtigung, jene Gleichbewertung mit dem Manne erringen, für welche sie in geistiger Beziehung heute schön und nicht erfolglos kämpft. Mein, Vera’s und manch anderer Frauen Urteil und Bestrebungen stehen nicht vereinzelt da — es giebt zum Glück auch einsichtsvolle Männer, welche sich darin mit uns einigen; welch’ trauriges Armutszeugnis wäre es auch für den Egoismus der Männer, wollten sie sich der Gerechtigkeit dieser Erkenntnis dauernd verschliessen.

Wenn Sie, Frau Thaler, beide vorerwähnten Regenerationsbedingungen der Neuzeit einer genauen Prüfung und Beobachtung unterziehen wollten, so könnten Sie Vera’s ahnungsvollen Wunsch nach einer sozialen Umwälzung und nach einer Umwälzung der bisherigen Begriffe von Moral nicht als Utopie hinstellen; wenn die kräftigere Menge der Menschen erst, ein natürliches Leben befolgend, natürlichen, also guten Instinkten folgen wird, wenn sie, Selbstarbeit dem Arbeitersklaventum Minderbegünstigter vorziehend, Luxus und Scheinwesen von sich weisen wird, dann braucht auch vom wirtschaftlichen Standpunkteaus, kein Mann das 30. Jahr abzuwarten, bis er, den Konvenienz- und Eitelkeitsansprüchen der Aussenwelt und des eigenen Kreises genügen kann, dann bedarf es nicht mehr des vorurteilsvollen Richterspruches der Gesellschaft um einen durch wahre Liebe schon geheiligten Bund zu sanktionieren. Nicht »verfänglich« wie sie meinen, sondern gesundlogisch und berechtigt ist Vera’s Frage, warum erst eine Unze Goldes am Finger und der priesterliche Segen des Weibes Hingabe an den Mann weihe, währenddem es der Liebe allein, verwehrt sei, sich ihm hinzugeben. — Ich gehe noch weiter und behaupte, dass sie sogar »entweihend« wirken, diese Unze Goldes und die ganz unstatthafte Einmischung eines dritten, einer dazu angestellten, gänzlich unbeteiligten Person in einen Bund der Liebe, über welchen zwei Menschenseelen allein zu entscheiden haben. — Das Geschäft der Trauung und die offizielle Besitzergreifung der Frau durch den Mann, entsprechen dem in den meisten Fällen vollkommen geschäftlichen Charakter der heutigen Gesellschaftsehe; denn nicht der edle und erhabene Naturtrieb der Fortpflanzung führt die meisten Menschen heute zur Ehe; gewöhnlich bildet entweder pekuniäres oder ein rein sinnliches Interesse das leitende Motiv zur Eheschliessung. Die grosse, noch unaufgeklärte Masse bedarf heute wahrscheinlich noch jenes Zügels, den gesetzliche Bande ihren unlauteren Begierden auflegt; für die Vorgeschrittenen jedoch, für einen mit reinem und idealem Sinn ausgestatteten Menschen bedeutet der gesetzliche oder kirchliche Akt eine Kette von unerträglichen Lügen; er bedeutet eine empörende, aller berechtigten Freiheitsansprüche des Individuums spottende Bevormundung, ein Misstrauensvotum gegenüber der unantastbaren Moralität seiner Empfindungen und Handlungen. Für die Frau ist es ausserdem noch schimpflich und entwürdigend, als stimmlose Sache betrachtet, ihr »Ich« einer oft brutalen Gewalt unterordnen, öffentlich als Mittel zu uneingeschränkter Befriedigung rein leiblicher Bedürfnisse oder krankhafter Gelüste des Mannes gestempelt werden zu sollen. Und was erfolgt von Seiten des Mannes als Gegengabe für diese völlige Unterwerfung desWeibes? Eine Folge unerbittlicher Leiden, eine ganz naturwidrige Ueberproduktion von Kindern. Welches ist oft das traurige Resultat eines derartigen Ehelebens? Empörte Auflehnung und im Drange selbstbewussten Freiheitsrechtes — die Untreue des Weibes. Finden Sie übrigens, dass das Ehegelöbnis vor dem Altar die geringste Garantie für gegenseitige Treue zwischen den Ehegatten sichert? Ist ein auf wahre Freundschaft und innige Sympathie zweier Menschen gegründeter Herzensbund nicht viel fesselnder, edler und sittlicher?

Abermals sind es indische Frauen, die uns die Wege weisen, welche auch wir Europäerinnen in berechtigtem Selbstgefühl einschlagen sollten. Das ausgezeichnete Buch »Reform-Ehe« von Frau Dr. Alice Stockham bringt Tiefdurchdachtes und Durchlebtes auf diesem Gebiet und führe ich Ihnen als Beispiel dafür das Kapitel über »freie Mutterschaft« an.

„Während eines Aufenthaltes in Indien machte „ich einen Besuch bei den Najars, einem eigenartigen Volke an der Küste von Malabar. Ihrer „Behauptung nach stammen sie von Brahma ab. „Sie haben eine eigene Regierung, sind intelligent und gesittet, besitzen gute Schulen und ihre „Häuser sind durchschnittlich besser als die in den übrigen Teilen von Indien: Mit Ausnahme von 2 Schwestern, welche einerMissionskinderschule für Mädchen vorstanden, gab es in diesem Bezirke keine Engländer. Bei den Najars findet sich die grosse Besonderheit, dass die Frauen die Herren der Schöpfung sind. In ausgedehntem Gegensätze zur Lage andererFrauen in jenem, an Widersprüchen so reichen Lande, führen sie die Bezeichnung »die freien Frauen Indiens«. Sie suchen sich ihre Gatten aus, nehmen die  Geschäftsinteressen wahr und sind allein Trägerinnen der Vererbung des Eigentums. Wie sich einmal jemand ausdrückte, beruht die Familie und das soziale System auf der Mutter. Sie ist der Schlussstein des Gewölbes, denn sie bestimmt darüber, wer der Vater ihres Kindes sein soll und verschenkt ihre weltlichen Güter ganz nach ihren Wünschen und ihremGutdünken. Sie heiratet den Mann ihrer Wahl, kann sich aber, falls sie ihn zu ihrem Gatten oder zum Vater ihres Kindes nicht für geeignet hält, wieder von ihm losfachen, ohne dass es dazu einer kirchlichen oder staatlichen Zeremonie bedarf. Ihr Wort und ihre Wünsche sind Gesetz“.

Die »Reformehe« nun, giebt unter jedem Regiment, mag es vom Manne oder von der Frau ausgeübt werden, Raum für die freie Mutterschaft.Die Reformehe beruht auf Gegenseitigkeit  und trägt auch nicht eine Spur von der veralteten Idee an sich, dass das Weib ein Besitztum des Mannes sei. Alle ihre Annehmlichkeiten und alle ihre Segnungen gebühren sowohl der Frau als dem Manne.

Die Ehe entfaltet sich zu einer idealen Einrichtung da, wo das Begehren und Gemessen des Weibes, das Begehren und Gemessen beim Manne wachruft, wo der, das Verhältnis zwischen Beiden regelnde Sittenkodex auch für Beide gleiche Verbindlichkeiten festsetzt, ausgenommen den Fall, wo es sich nach dem Verlangen von Kindern handelt. Da kommt sicherlich dem Weibe die entscheidende Bestimmung, dem Manne das bescheidene »sich-fügen« zu.

An anderer Stelle: „Frauen mit einem für erhabene Zwecke und Ziele empfänglichen Gemüt werden für die Empfängnis und Entwicklung des neugeborenen Kindes die besten Bedingungen suchen oder abwarten, und das Kind seinerseits wird ihrer Fürsorglichkeit und ihres treuen Gehorsams; gegen das Gesetz in seinem dadurch verherrlichten Leben segnend gedenken. In voller Freiheit werden die Gebote der Liebe erfüllt Der idealen Elternschaft entsprechend sind auch die Kinder ideal“.

Sowohl dieser Artikel als jener im »freien Wort« erschienene, »die Frau in Burma« geben Ihnen ein anschauliches Bild der Ehe wie sie lange schon von fortschrittlichen Geistern angestrebt, heute bereits von Einzelnen durchgeführt und zweifellos in stets weiteren Kreisen Eingang finden wird. Dort waltet noch Natur, und überall, wo die Natur unverkümmert und unverstümmelt durchbricht, schafft sie Gutes.    .

Sie preisen auf Seite 11 ihrer Broschüre die Zurückhaltung, mit welcher in Ihrer Jugendzeit die jungen Mädchen jene so hochwichtigen Erörterungen über Geschlechtsbeziehungen vermieden. — Die jungen Mädchen von »heute« aber, haben unter den Folgen dieser Unaufgeklärtheit zu leiden; sie brachte es mit sich, dass unsere Mütter uns in jenem falschen Idealismus grosszogen, welcher uns die Wahrheit vorenthält und uns im blinden Glauben an all’ das Ideale (das nirgends zu finden) aus dem wonnigen Traum goldener Zukunftsphantasien in die Arme eines entweder durch und durch kranken Mannes stürzen lässt, oder in die Arme eines Mannes, dessen glühendes Treueversprechen nach ein-, im besten Falle 2-jähriger Enthaltsamkeit während eines durch Konventionserfordemisse verlängerten Brautstandes, auf dem Wege zur Prostitution und zur Krankheit seinen Wahrheitsbeweis findet und welches ihn selbst nach mehrjähriger Ehe denselben Weg zu gehen nicht hindert. Ist es, an Hand dieser allgemein verbreiteten Fälle, welche notgedrungen Jammer und Elend zur Folge haben müssen, noch möglich, diese »Unschuld«, ein »Traumleben«, der nackten Wirklichkeit, die uns durch unsere Beobachtungen vor obigem bewahrt, vorzuziehen?! Im Gegenteil. Da es nur zum Wohle der Frau dienen kann, so ist völlige Aufgeklärtheit besser, als das leere egoistische Wort »Unschuld«, welches nur den Unbeteiligten einen, manchmal cynischen Reiz gewährt, die »Unschuldige« jedoch mit dem dichten Mantel selbstschlagender Unkenntnis der Lebensvorkommnisse umhüllt; jede Mutter handelt schlecht, unmoralisch, wenn sie diese Unschuld wissentlich unterstützt und ihr Kind nicht vor kummervollen Enttäuschungen späterer Jahre schützt; und ich empfehle jedem Mädchen dringend, sich aus dem Dunkel der Vorstellungen über den Geschlechtsverkehr, sowie über den krankhaften und unsittlichen Missbrauch desselben, bei Zeiten zu klarem Erkennen durchzuringen. Dr. med. Rosch hat in seiner kleinen Schrift »die Grundursachen der meisten chronischen Krankheiten, besonders der beständigen Leiden des weiblichen Geschlechts«, Worte von unschätzbarem Wert niedergeschrieben.

Seite 22 Ihrer Broschüre tadeln Sie die Offenherzigkeit von Vera’s Sprache, die Enthüllungen von bisher unaufgedeckt Gebliebenem. Ich erwidre darauf in freier Diskussion, welche ich im Geiste mit Ihnen führe, dass Wahrheit stets nur Gutes befördern kann, und sind wir Frauen uns, ähnlich den Männern, eines sinnlich unreinen Gedankenganges oder übler Gewohnheiten und Sitten bewusst, so kann es nur zu unserem Nutzen gereichen, wenn ein warnender Finger uns genau auf die wunde Stelle hindeutet. Nicht Verachtung des Mannes lehrt Vera’s Buch, sondern höhere Selbstachtung des Weibes. Sie gestehen selbst die »tausendjährige Hörigkeit der Frau« und den Unmut zu, den sie erzeugt — aber Sie besitzen nicht so viel Stolz und Selbstachtung, dieselbe Freiheit und dieselben Rechte für die Frau zu fordern, welche dem Manne gewährt werden. Nicht jedem Mädchen taugt der unkeusche Mann und kann es, den guten Vorsätzen zu sittlich geläutertem Leben Achtung zollend, ihm seine Freundschaft weiter bewahren, ja ihn sogar heiraten, so ist es einem andern Mädchen, kraft seines Erhaltungsinstinktes und der Reinheit seines Sinnes auch nicht zu verübeln, wenn es mit einem Manne, der selbst erklärt, »keine Dirne heiraten zu können« in kein Gattenverhältnis zu treten vermag. Der keusche Mann, den Vera für keusche Mädchen fordert, ist keine Unmöglichkeit; er bildet das neueste Ergebnis der eingangs von mir erwähnten vegetarischen Lebensbedingungen, welche, die Reizmittel gemischter Kost und nervenzerrüttender Lebensgewohnheiten ausschliesst, um, sinneberuhigend und Kräfte vermehrend, ein gesünderes Geschlecht und günstigere soziale Verhältnisse erstehen zu lassen.

Zum Schlusse: Ich klage Sie nicht an Frau Thaler, noch Ihre ganz rückständigen Anschauungen, denn jeder ist das Produkt seiner Zeit; Ihre Zeilen beweisen es —nur einzelnen, mit Sehergeist begabten Persönlichkeiten ist es gegeben, das Richtige für kommende Zeiten zu erkennen; der Durchschnittsmensch vermag blos das beste für die Gegenwart, nicht aber für die Zukunft zu erkennen, weil das beste nie vorhanden, sich stets nur das bessere vorbereitet und uns zu weiterer Vervollkommung führt. Aus dem Mangel an Erkenntnis kann jedoch niemandem ein Vorwurf gemacht werden; deshalb wird der einsichtsvolle Leser Ihre Zeilen auch nur mit Nachsicht, als das Produkt einer, früheren Jahrzehnten angehörenden Denkweise betrachten — er kann sie jedoch unmöglich in allen Punkten gut heissen und diesem bewusst sicheren Empfinden einer richtigen Kritik der Jetztzeit entsprang Vera’s Mut auf die berechtigten Forderungen der Frau von »heute« aufmerksam zu machen.— Dieser Kritik entspringt auch mein Versuch, Sie in aller Freundlichkeit auf die eingangs erörterten Thatsachen sowie auf den entschiedenen Vorzug völliger Aufgeklärtheit des Mädchens in allen, seinen Lebensgang betreffenden Dingen hinzuweisen.

Wir alle wollen das beste — veruneinigen wir uns nicht, sondern einigen wir uns in Freundschaft, zu eigenem, zum Wohle der Jüngeren als wir und zum Wohle der Gesamtheit, im Sinne des stets erleuchtenden und erhebenden Fortschritts! Ich reiche Ihnen die Hand!


Reproduktion

Bern: Schweizerische Landesbibliothek, 2006 Reproduction

Berne: Biblioth&que nationale suisse, 2006 Riproduzione

Bema: Biblioteca nazionale svizzera, 2006


Durchgesehene Digitalisierung

Reinhard Christeller 2022

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Zeitschrift »Freies Wort«.