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Der anfängliche Wanderer,
der Verborgene,
der Einsame des Abgrunds,
der Untergehende,
der Zukünftige
 

Die der „Entscheidung“ gewidmeten Abschnitte [in den ‚Beiträgen zur Philosophie’] skizzieren zum erstenmal Heideggers Vision der Zukunft sowie den Umriß derer, die sie verkörpern. Diese Männer der Zukunft tragen das Siegel einer besonderen Berufung, handelt es sich doch um Auserwählte ohne jede Ähnlichkeit mit denen, die lange Zeit auf der Bühne der Geschichte standen. Unter „jenen ausgezeichneten Gezeichneten“ oder „Zukünftigen“ unterscheidet er hierarchisch drei Kategorien: „jene wenigen Einzelnen“, „jene zahlreicheren Bündischen“ sowie „jene vielen Zueinanderverwiesenen“. An der Spitze steht eine sehr beschränkte Elite von seltenen und einzelgängerischen Geistern, die teilhaben am „Adel des Seyns“.

Das Einverständnis dieser Einzelen, Wenigen und Vielen ist verborgen, nicht gemacht, plötzlich und für sich wachsend“. … Ihre Hauptaufgabe ist die Begründung der Gemeinschaft des Volkes durch Vermittlung der Wahrheit des Seins.

(Nicolas Tertulian in Peter Kemper (Hg.): MH – Faszination und Erschrecken, S. 64 f).

Ist es vorstellbar, dass in einem so streng und nüchtern philosophischen Werk wie demjenigen Heideggers sich Spuren menschlicher Begegnungen erhalten haben und erkennbar sind? –

Es scheint unwahrscheinlich, und doch: In seinen ‚Beiträgen zur Philosophie’, die nach seiner Ernüchterung vom NS-Rausch in den Dreißigerjahren entstanden sind, heben sich einige Passagen heraus, die auf konkrete Menschen verweisen.

An mehr als einer Stelle zeichnet sich der Umriss von Menschen ab, die Heidegger als die „Einzigsten“ (BPh 43) bezeichnet. Er sieht und benennt sie einerseits als „die Zukünftigen“, „die Gezeichneten“, “die Geopferten“, anderseits als die „Gründer und Bauer der Augenblicks-stätte der Wahrheit“.

Er spricht von diesen „Zukünftigen“ immer in der Mehrzahl. Und zwar unterscheidet er unter ihnen drei deutlich hierarchisch gestufte Gruppen: 1. die „wenigen Einzelnen“, 2. die „zahlreicheren Bündischen“ und 3. die „vielen Zueinander-verwiesenen“ (96).

Oben sind es ganz Wenige, vielleicht nur ein Einzelner, „Einzigster“, darunter kommen die qualitativ Minderen, quantitativ Zahlreicheren, und schließlich die Vielen, die aufeinander verwiesen sind, also, weil weniger selbständig im Denken, umsomehr auf ihre Abstützung durch eine Gruppe angewiesen sind. Die Stufenreihe abwärts geht vom hervorragenden Einzelnen zum Bund, der eine Elite in sich versammelt, und vom Bund zur Ebene der Vielen, die nicht aus sich selber bestehen können.

Heideggers Kennzeichnung der „ausgezeichnet Gezeichneten“ (96) macht wahrscheinlich, dass die „wenigen Einzelnen“ sich vermindern auf einen Einzigen. Denn von der Gesamtheit der in seiner Aufzählung Genannten wird gesagt, dass sie „noch z. T. in den alten und gängigen und geplanten Ordnungen (stehen)“ (97). Das heißt doch, anders gewendet, dass einige von ihnen eben nicht mehr in den alten und gängigen und geplanten Ordnungen stehen. Das „noch“ sagt außerdem, dass der Austritt aus diesen Ordnungen und die Gründung einer neuen Ordnung das oberste Ziel dieser Zukünftigen bildet.

Klar ist, dass Heidegger selbst – als Professor, Bürger und Beamter – noch innerhalb der alten Ordnungen steht, auch wenn er diese denkerisch zu durchbrechen sucht. Klar ist ebenso, dass zu seiner Zeit kein anderer so deutlich außerhalb der gängigen Ordnungen stand – und zugleich die Gründung einer neuen Ordnung versuchte – wie der „Außenseiter“, der „Sonderling“, der „Rufer in der Wüste“: Gusto Gräser.

Wir dürfen deshalb vermuten, dass jenes Pluralwort im Kern nur jenen „Einzigsten“ meint. Darauf deutet die unterscheidende Gruppierung hin, die Heidegger von den „Zukünftigen“ gibt und die sich klar als Pyramide darstellt. Die zentrale Aussage, in den ‚Beiträgen’ auf Seite 96, sei hier nochmals im Zusammenhang zitiert:

Wodurch fällt die Entscheidung? Durch das Geschenk oder den Ausbleib jener ausgezeichneten Gezeichneten, die wir „die Zukünftigen“ nennen. … Zu diesen Gezeichneten gehören:

  1. Jene wenigen Einzelnen, die in den wesentlichen Bahnen des gründenden Daseins (Dichtung – Denken – Tat – Opfer) für die Bereiche des Seienden die Stätten und Augenblicke vorausgründen. …

  2. Jene zahlreicheren Bündischen, denen es gegeben ist, aus dem Begreifen … der Einzelnen die Gesetze … der Wahrung der Erde und des Entwurfs der Welt … sichtbar zu machen.

  3. Jene vielen Zueinanderverwiesenen … durch die und für die die Umschaffung des Seienden … Bestand gewinnt.“ (96)

Die wenigen Einzelnen gehen voraus, legen in Dichtung, Denken, Tat und Opfer (also nicht im Denken allein!) die Grundlagen für eine neue Kultur.

Wenn dieser Formulierung noch etwas Abstraktes anhaftet, das ein zeitlos Gültiges meinen könnte, so wird Heidegger in der zweiten Gruppierung überraschend konkret. Die „Bündischen“ waren zu seiner Zeit ein klarer Begriff: Es handelt sich um die Angehörigen der Jugendbewegung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg die „Bündischen“ nannten. Zu diesen hatte Heidegger, namentlich in seiner Marburger Zeit, einen gewissen Kontakt. Auch durch seinen Sohn Hermann, der ihnen angehörte. Einen viel näheren und stärkeren hatte allerdings Gusto Gräser, der mit den jungen Leuten zeitweise zusammenlebte, an ihren Lagerfeuern sprach, dessen Gedichte ihren Wanderzügen als Losung voranflatterten.

Auf der Fahrt zum Hohen Meissner im Oktober 1913 überholte uns ein seltsam gekleideter Wanderer, der uns noch sehr Bürgerliche in Erstaunen versetzte. …Dieser „Naturmensch“ war der Tolstoianer Gusto Gräser, der am Abend vor dem Feuer eigene hymnische Verse ekstatisch sprach.
Elly Bommersheim

Sollte also Heidegger mit den wenigen Einzelnen sich selber gemeint haben, so konnte er zwar das Denken für sich in Anspruch nehmen, aber kaum – wie Gräser - Dichtung, Tat und Opfer. Auch war der Einfluss des siebenbürgischen Wanderers auf die bündische Jugendbewegung ungleich größer, zumal, wenn es um die „Wahrung der Erde“ ging. Gräserfreunde waren es ja, die in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren alternative Siedlungen gründeten; Gräserfreunde waren es, die ökologische Forderungen in ihre Gruppen- und Parteiprogramme aufnahmen, Gräserfreunde waren es schließlich, die in der Hitlerzeit als „illegale Bündische“ aktiven Widerstand leisteten.

Die dritte Gruppe in Heideggers Aufstellung umfasst diejenigen, die das von den wenigen Einzelnen Gegründete, von den Bündischen für die Öffentlichkeit deutlicher sichtbar Gemachte umsetzen in den festen Bestand der Kultur. Wir haben also eine deutliche Stufung in der Angepasstheit dieser Zukünftigen: wenige verborgene Vorkämpfer, Vordenker, Vorbilder; dann die Elite der Bündischen, die eine Vermittlerrolle übernimmt, und schließlich eine Gruppe von Kulturarbeitern, die einerseits für das Neue aufgeschlossen, andererseits gesellschaftlich genügend integriert sind – etwa als Lehrer, Journalisten, Schriftsteller, Professoren - , um dieses Neue in den kulturellen Bestand eingliedern zu können.

Geht man von dieser Einteilung aus, dann möchte Heidegger sicher an den ersten beiden Kategorien teilhaben, kann sich darin aber – objektiv gesehen – nur in Maßen behaupten.

Dies wird deutlich, wenn man die Kennzeichnungen beachtet, die der Philosoph den wenigen Einzelnen zuschreibt: Es sind die Verborgenen, die Unscheinbaren, die Geopferten, die Machtlosen.

Heidegger, der damals schon Weltberühmte, ist weder verborgen, noch unscheinbar, noch machtlos, noch geopfert. Wohl aber treffen diese Kennzeichnungen auf Gusto Gräser zu.

Nur die großen und verborgenen Einzelnen werden dem Vorbeigang des Gottes die Stille schaffen und unter sich den verschwiegenen Einklang der Bereiten. … Nur zwischen diesem Massenwesen und den eigentlich Geopferten werden sich die Wenigen und ihre Bünde suchen und finden.“ (Beiträge 414)

Verschwiegen“ ist in der Tat der Einklang zwischen Heidegger, dem immerhin „Bereiten“, und jenen oder jenem im Verborgenen lebenden „eigentlich Geopferten“.

Das Einverständnis dieser Einzelnen, Wenigen und Vielen ist verborgen, nicht gemacht, plötzlich und für sich wachsend.“ (B 97)

Diese Beschreibung wird verständlich, wenn man sie auf einen im Untergrund lebenden Wanderer wie Gusto Gräser bezieht, der plötzlich unangemeldet auftaucht, ebenso spontan wieder verschwindet und die Besuchten mit Eindrücken und Einsichten zurücklässt, die für sich wachsend weiterwirken. Man sieht geradezu, wenn man Heideggers verschleiernde Redeweise biographisch aufschließt, man sieht geradezu, wie da ein Wanderer, und zwar ein „anfänglicher Wanderer“, an Heideggers Tür klopft. Der kam nicht auf Verabredung und Bestellung, kam unvermutet, kam „plötzlich“, ihr Treffen war nicht „gemacht“, sollte auch möglichst nicht bekannt werden sondern „verborgen“ bleiben. Und wenn er nach kurzem Aufenthalt wieder wegging, dann blieb Heidegger mit seinen Eindrücken allein. „Für sich wachsend“ mussten die Anstöße sich entfalten, die ihm der unscheinbare Wanderer gegeben hatte.

Auch eine beschämende, zu Bescheidenheit zwingende Einsicht musste sich einstellen: „Nur Da-sein, nie ‚Lehre’, kann die Wandlung des Seienden von Grund aus bringen“ (B 98). Da-sein und Lehre – das ist gewissermaßen der Abstand zwischen Gräser und Heidegger. Doch bleibt letzterem immerhin ein Trost, mit dem er sich zugleich die eigene Rolle, eine dienende Rolle zuweist: „Solches Da-sein als Grund eines Volkes bedarf der längsten Vorbereitung aus dem anfänglichen Denken; aber dieses bleibt je nur ein Weg der gleichzeitig auf vielen Bahnen anhebenden Anerkenntnis der Not“ (ebd.).

Heidegger sieht sich als Begleiter und Wegbereiter eines Größeren. Wie resümiert doch Rainer Marten? - „Als deutscher Denker … versteht er … sich … gleich dem Täufer Johannes, der dem Christus voraufgeht“ (Lesen 164). Er kündigt einen Menschen an, der „ärmer, einfacher, zarter und härter, stiller und opfernder und langsamer in seinen Entschlüssen und sparsamer in seiner Rede sei“ (zit. nach Marten: Kontroverse 236). Wer könnte dieser Arme und Einfache, dieser Stille und Opfernde gewesen sein?

Dieser Unsichtbare sei ein Untergehender. „Die Untergehenden im wesentlichen Sinne sind jene, die das Kommende (das Künftige) unterlaufen und ihm als sein künftiger unsichtbarer Grund sich opfern“ (B 397).

Diese Anderen müssen … mit den Einsamsten des ersten Denkens noch Einsamere des Abgrundes werden … weshalb auch die Rede von Größe zu klein bleibt“ (B 432). Mit den „Einsamsten des ersten Denkens“ meint er offenkundig sich selbst. Wer aber ist der Einsamere des Abgrunds, vor dessen Größe ihm die Stimme versagt?

Und wieder tönt es wie von einer Verschwörung, wie von geheimen Treffen Eingeweihter und Ahnender, deren Wege sich nur selten und eher zufällig kreuzen:

Schon im Übergang müssen jene gehen, die es einander zubringen, indem sie, Entscheidungen ahnend, aufeinander zukommen und sich doch nicht treffen“. (Da klingt an, dass ihm Einer etwas zubringt, dem er sich aber doch nicht anschließen kann.) „Denn der zerstreuten Einzelnen bedarf es, um die Entscheidung reifen zu lassen“. (B 434). Wir spüren wieder seine Einsamkeit, die Einsamkeit eines Wartenden auf den Freund und Wegweiser, der nur selten kommt, worüber er sich trösten muss. Dieses Zerstreutsein, dieses Getrenntsein sei nötig, damit die wesentlichen Entscheidungen reif werden. Und nun, eine Seite weiter, wird er noch deutlicher:

Die Nochnicht-Verständigten, die noch nicht die Abrede über alles sich gesichert haben … sind die anfänglichen Wanderer, die am weitesten herkommen und deshalb die höchste Zukunft in sich tragen“ (B 435)

Das Wort vom Wanderer kommt ihm auf die Zunge, vom anfänglichen Wanderer, der von weit herkommt. Nur Metapher? Es gab aber Einen, auf den dieses Wort im doppelten Sinn – im konkreten wie im übertragenen – zutraf. Und der zugleich noch nicht „die Abrede über alles sich gesichert“, also noch kein geschlossenes System des Wissens sich gebaut hatte.

Noch enger wird das Raster, wenn wir die folgende Kennzeichnung lesen:

Wodurch fällt die Entscheidung? Durch das Geschenk oder den Ausbleib jener ausgezeichnet Gezeichneten, die wir ‚die Zukünftigen’ nennen“ (B 96).

Heidegger dürfte jenes Buch von seinem Landsmann Hermann Hesse gelesen haben, das nach dem Ersten Weltkrieg Furore machte: den ‚Demian’. Darin ist von „Gezeichneten“ und „Zukünftigen“ die Rede, die „das Zeichen“ an sich tragen. Hier wie dort das selbe Pathos, die selbe inbrünstige Erwartung eines Kulturwandels, eines neuen Anfangs. Und die Rede von einem Bunde der Zukünftigen: „Während, nach unserer Auffassung, wir Gezeichneten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. … Für uns (die mit dem Zeichen) war die Menschheit eine ferne Zukunft“ (Hesse: GW 5, S. 143).

Gemeint war bei Hesse: Gusto Gräser und die Seinen. Heidegger nimmt Hesses Redeweisen auf: Gezeichnete, Zukünftige, Vereinzelte. Er dürfte gewusst haben, auf wen sich diese Worte bezogen. Gräser selbst wird nicht darüber geschwiegen haben.¨

Der unerkennbare Dichter

Zur selben Zeit, als die ‚Beiträge‘ niedergeschrieben wurden (um 1938), entstanden die ‚Überlegungen‘ der sogenannte „Schwarzen Hefte“ von 1938/39 (GA 95). In diesen tagebuchartigen Aufzeichnungen wird Heidegger (wahrscheinlich un-beabsichtigt) noch deutlicher. In einem unwahrscheinlich gewundenen, kon-junktivisch abgesicherten Langsatz entschlüpft ihm ungewollt ein Bekenntnis. Er spricht von jenen „Wissenden, die, um diese Geschichte des Seyns dem Seienden zu retten,, für lange Zeit der Historie entsagen und auf jedes Erzählen und Verrechnen verzichten müssen, weil es den Übergang gilt“. Den Übergang in ein neues Zeitalter. Er fährt fort:

Und wenn nun solche sind, die sich in das Seyn wagen, die in der Helle des täglichsten Tages, die schon zur grauesten Blässe geworden, noch und nur das Licht sehen als das Dunkle, wenn abseits der Straßen ein Dichter ginge, unerkennbar dem Volk der Schriftsteller, und wenn dieser Dichter nur jenes Wesens sein könnte, das Einer schon vorausdichten – d. h. vor der Zeit fallen müßte, wenn unerkannt vom Dichter ein Denker pfadlos ginge, das Denken als Denken des Seyns vorausdenkend, wenn so das Wesen der Geschichte – anders als zuvor – allem Geschehen erst voraus-gegründet sein müßte, dann könnte doch diesen Gründern ihr eigenes Wesen nur gehören, wenn es in der tiefsten Verschweigung verharren dürfte und zum Hintergrunde jedes ihrer winkenden Worte noch der unversehrte Abgrund bliebe, wodurch sie bezeugen, daß sie den Weg nicht wissen, sondern nur den Ort ahnen, aus dem alle Wege ausgehen müssen, auf denen die Bestimmung des Menschen gesucht sein will.

Martin Heidegger: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39), GA 95, Frankfurt am Main 2014, S. 63.

Was für ein Satz! Man spürt förmlich die Verlegenheit des Schreibenden, der sich mit seiner Überzeugung nicht recht herauswagt, sie aber doch ans Licht bringen will.

Wenn hier von einem (namentlich ungenannt bleibenden) Dichter die Rede ist, dann wird man zunächst vermuten, dass Heidegger an Hölderlin denkt, mit dem er sich in dieser Zeit intensiv beschäftigt, den er ungewöhnlich hoch geschätzt hat. Wenn aber „unerkannt vom Dichter“ ein Denker pfadlos geht, der das Denken des Seins vorausdenkt, dann ist mit jenem Denker zweifellos er selbst gemeint. Unerkannt bleiben kann er nur von einem Mitlebenden, nicht von dem längst verstorbenen Hölderlin.

Aber wie? Blieb Heidegger denn von Gräser unerkannt, und wenn ja – inwiefern?

Gräsers Kritik an Heidegger ist in seinen Schriften unverkennbar, und sie war auch unvermeidlich. Der Dichter musste beobachten, wie der Denker aus seinen Vorgaben, die zum Leben, zur Existenz, zum Eigentlichsein aufriefen, wieder ein akademisches Begriffs-System machte, ein Gerede, eine Philosophie der Existenz. Er konnte nur höhnen über jene, die

um Sichrung schwindelschwänzeln, hirnblöd bloß existenzeln, statt leben, herzentzückt.

Immer wieder kommt in seinem kurz vor 1930 entstandenen ’Wortfeuerzeug‘ seine Enttäuschung über den Schüler zum Ausdruck, der Taten durch ein wortreiches Gepränge ersetzte. Er bezeichnet klar die Entgegensetzung:

Dort Existenz – Hier – Leben!
Dort in Eksistenzenecken hudelsudelflötengehn –
hier ins luftge Land des Lebens fiedeldudel – flöten gehn.

In Heidegger sah er einen Hudler und Sudler. Er selbst war ein Flötenspieler und zog mit den fiedelnden Wandervögeln durchs Land. Alles Mathematische war ihm zuwider. Bei Heidegger kann er nur ein „doppeltmatt mathematisches Existenzeln“ erkennen. Wie der Philosoph schreibt er „Eksistenz“ und macht daraus eine „Ecksistenz“ – ein „Sichtotschleichen im Existenzeneck“.

Er kann sich nicht genug tun in seinem Schimpfen, das fast schon einer Verfluchung gleich kommt:

Du schädelschwindliger Hexentanz, du Protzengeschwänz und Fratzengeschwanz!
Hör, Freundchen, lass uns verlieren – ums Leben – das Ecksistieren!

Noch in seinen späten Jahren kommt er verachtungsvoll auf den wohlbestallten Professor zu sprechen, ohne seinen Namen zu nennen. Sich selbst sieht er als den wackerbiederen Walter:

Kannst ja doch nimmer so ein Feinling sein, so’n Wohlbestallter,
musst ja ins Werk, ein wackerbiedrer Walther.
Zu dir passt wahrlich kein „gemachter Mann“, der, weil versorgt-versargt
im Eck Sistenz, kein Freund sein kann.

Seine Enttäuschung ist unverkennbar. Sicher hatte er sich von dem jüngeren, einflussreichen Freund auch Unterstützung erhofft. Die blieb aber von Heidegger ebenso aus wie von Hermann Hesse.

Von einer geistigen Freundschaft muss dennoch die Rede sein. Sie ergab sich nicht nur aus den denkerischen Übernahmen von Heidegger, sie ergab sich auch aus der gemeinsamen Überzeugung, Gründer einer kommenden Neukultur zu sein. Zugleich aus dem Abgrund des Nichtwissens, wohin ihr Weg führen würde. Der Dichter gab dem Denker den Trost, dass da mit ihm einer lebte, der vom Dunkel des Lichts wusste und von der Wandelbarkeit der Wahrheit.

Es genügt, an Hesses ‚Demian‘ sich zu erinnern, um zu erkennen, woher Heideggers Wortwahl von den „Gezeichneten“ und Zukünftigen“ stammt:

Wir, die mit dem Zeichen, mochten mit Recht der Welt für verrückt und seltsam, ja für gefährlich gelten. Wir waren Erwachte, oder Erwachende … Aber während, nach unserer Auffassung, wir Gezeichneten den Willen der Natur zum Neuen, zum Vereinzelten und Zukünftigen darstellten, lebten die andern in einem Willen des Beharrens. … Uns Gezeichneten lag keine Sorge um die Gestaltung der Zukunft ob. … Dazu sind wir gezeichnet – wie Kain dazu gezeichnet war, Furcht und Haß zu erregen und die damalige Menschheit aus einem engen Idyll in gefährliche Weiten zu treiben“ (GW V, 142-145).

Wir Narren und Zukunftsträumer … Wir Gläubigen der Zukunft“ (GW X, 452); Wir Sonderlinge und Wüstenprediger“ (ebd., 444).