Gräsers „Zauberlehrling“ Ludwig Christian Häusser
 

 
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Mein Abschied vom Heiligen

Eine Aufzeichnung von Ludwig Häusser

Der ehemalige Sektgroßhändler Ludwig Christian Häusser aus Bönnigheim in Schwaben hatte im Mai 1918 Gusto Gräser in Zürich kennen gelernt, war ihm von dort nach Ascona gefolgt, wo er sich in Gräsers Nachdichtung des 'Tao Te King' vertiefte und sich alsbald als neuer Laotse, Buddha, Christus und Zarathustra fühlte und damit seinem bescheideneren Meister hoch überlegen. In einem aus Nietzsches ‚Zarathustra‘ geborgten Gespräch nimmt Häusser, der neue "Zarathustra", am letzten Tag des Jahres 1918 Abschied von Gusto Gräser, dem "alten Heiligen". Der warnt seinen in den Größenwahn driftenden Zauberlehrling, versucht, ihn, der jetzt als der wahre Übermensch vor das Volk treten will, zurückzuhalten. Vergebens.

[Der alte Heilige/Gusto Gräser spricht:] " ... Verwandelt ist Haeusser, zum Kind ward Haeusser, ein Erwachter ist Haeusser. Was willst Du nun bei den Schlafenden? Wie im Meere lebtest Du in der Einsamkeit, und das Meer trug Dich! Du willst ans Land steigen? Wehe: Du willst Deinen Leib wieder selbst schleppen???"

Ich [Häusser] antwortete: "Ich liebe die Menschen!"

"Warum", sagte der Heilige, "ging ich doch in den Wald und in die Einöde? War es nicht, weil Ich die Menschen allzusehr liebte? Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe Ich nicht: Der Mensch ist Mir eine zu unvollkommene Sache! Liebe zum Menschen würde Mich umbringen!"

Ich antwortete: "Was sprach Ich von Liebe! - - - Ich bringe den Menschen ein Geschenk."

"Gib ihnen nichts", sagte der Heilige. "Nimm ihnen lieber etwas ab - - - und trage es mit ihnen - - - das wird ihnen am wohlsten tun: wenn es Dir nur wohltut! Und willst Du ihnen geben, so gib nicht mehr als ein Almosen und lass sie noch darum betteln!"

"Nein", antwortete Ich, "Ich gebe keine Almosen. Dazu Bin Ich nicht arm genug - - - "

Der Heilige lachte über Mich und sprach also: "So sieh zu, dass sie Deine Schätze annehmen: Sie sind misstrauisch gegen die Einsiedler und glauben nicht, dass wir kommen, um zu schenken. Unsere Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen. Und wie wenn sie nachts in ihren Betten einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne aufgeht, so fragen sie sich wohl: Wohin will der Dieb? Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde! Gehe lieber noch zu den Tieren! - Warum willst Du nicht sein wie Ich - ein Bär unter Bären, ein Vogel unter Vögeln?" - -

"Und was macht der Heilige im Walde?" fragte Ich.

Der Heilige antwortete: "Ich mache Lieder und singe sie, und wenn ich Lieder mache, lache, weine und brumme Ich: also lobe Ich Gott. Mit Singen, Weinen, Lachen und Brummen lobe Ich den Gott, der Mein Gott ist - doch was bringst Du zum Geschenke?"

Als Zarathustra diese Worte gehört hatte, grüsste er den Heiligen und sprach: "Was hätte Ich Euch zu geben? Aber lasst Mich schnell davon, dass Ich Euch nichts nehme!"

Und so trennten wir uns voneinander, der Greis - Gräser, und der Mann - Ich - Bin der Mann - - lachend - - das stimmt genau - - - wie zwei Kinder lachen. -

So verliess Ich Gräser 31. 12. 1918! Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch nichts davon gehört, dass Gott tot ist?

Häusser entnimmt den Text der Vorrede zu Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, und zwar aus dem zweiten Unterkapitel. (In der Taschenausgabe des Kröner Verlags, 108.-113. Tausend, Seite 11f.). Für Zarathustra setzt er Häusser ein und schreibt alle auf ihn bezüglichen Pronomina groß. Erst im vorletzten Absatz nennt er den Namen Gräser und nimmt kleine Einschiebungen vor: “wir uns … Gräser … Ich – Bin … das stimmt genau … Kinder“. Dann folgt die eigene Aussage: „So verliess Ich Gräser 31. 12. 1918!“

Sie müssen also tatsächlich gelacht haben an diesem letzten Tag des Jahres 1918. Es war der Tag des Abschieds. Gräser musste, ausgewiesen, die Grenze nach Deutschland überschreiten. In seiner Tasche trug er den Brief an Hesse, den er am Vortag verfasst hatte, und einige Abschriften seiner Nachdichtung des ‚Tao Te King‘ von Laotse.

Häusser hatte ihn mit seinem Nietzsche-Text nicht schlecht getroffen, denn tatsächlich sah er sich gern als Bär im Walde. Aber dass er vom Tod Gottes nichts gehört hätte, davon konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: dies war geradezu der Ausgangspunkt seines Denkens. Wohl aber ging er – wie ein Bär – bedächtig-besonnen seines Weges, wollte nicht mit einer Lehre die Menschheit überrumpeln sondern eher lachen, singen, tanzen und spielen. Sein Gott war ein lachender, ein singender Gott, kein herrschender und verdammender Gesetzgeber, auch kein Beglücker. In seinen Reden sagte er tatsächlich, er wolle den Menschen etwas nehmen: das Falsche und das Zuviele, dann werde das Echte vonselber ans Licht kommen. Er ist weder Missionar noch Erlöser. Häusser aber will ein solcher sein und verkündet sich lautstark als ein solcher. Er glaubt den Menschen etwas geben zu können: sich selbst als Person. Gräser will die Menschen sich selber finden lassen und nur ein Wegführer dazu sein.


 
Gräser, der Waldgeist, der Bär

... Der will doch lieber noch barbarisch war, barsch wie ein Bär
durch unsern Weltwald trollen, mitbummelbäumen mit Urlebewelt,
in samtner Sommernacht Sternliederlicht, das silbergolden durch Blauruhe bricht,
Cultur versäumen! ...
Hah, mit der Tierwelt wunniglicher Schöne,
wie'n Hirsch beherzt, eingehn, versinken im Weltwaldgewöhne ...
Bei Blüht und Hummel, jah, da brummelspricht es,
das Heilgeheimnis, offneren Gesichtes ...
*
Loslos wie die Waldvögelein, die Kuckucke, Pirole –
und trollt einmal ein Bär herein, auch solche Käuze müssen sein
zum Weltgemeinschaftswohle ...
*
Mit Lachen und mit Brummen
will Erdsternfrühling kummen.

*


Häusser „erwirbt“ Gräsers Haus

Auszug aus: Eduard Reiss, Über formale Persönlichkeitswandlung als Folge veränderter Milieubedingungen, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 70 (1921).

S. 65: „Herbst 1918 tauchter er (Haeusser) in Askona auf in Begleitung eines in Württemberg bekannten Vegetarianers und Naturschwärmers (Gräser!), der dort von seinem Bruder ein kleines Landgut geerbt hatte. Was sich mit diesem Besitz abgespielt hat, gelang mir nicht recht aufzuklären. Sicher ist nur das eine: H. war nach kurzer Zeit der Eigentümer dieses Landgutes, und zwar, auch das ist festgestellt, ohne irgendwelche Zahlungen zu leisten.
Dieses glückliche Geschäft suchte er bei seiner Ausweisung aus der Schweiz noch günstig zu verwerten, indem er in einem Flugblatt seine Freunde um ein Darlehen auf dieses Besitztum anfleht, das er nach eigener Aussage beim Kauf für 25 000 Franken übernahm und nun auf mindestens 90 000 Franken schätzt, trotzdem aber, um Geld zu bekommen, bereit ist, für 30 000 Franken wegzugeben. Im September 1919 hat er dann das Gut für 20 000 Franken an einen schwäbischen Architekten weiterverkauft, nachdem es inzwischen, da H. die Zinsen der darauf lastenden Schulden nicht bezahlen konnte, zum Zwangsverkauf ausgeschrieben worden war. Auch dieses Geschäft mußte rückgängig gemacht werden, weil dem Käufer die Einreiseerlaubnis in die Schweiz verweigert wurde. Einer der Gläubiger soll daraufhin das Grundstück übernommen haben.“

[Dieser Gläubiger war sehr wahrscheinlich der Zoologe Karl Soffel, der seither im Hause der Gräserfreundin Albine Neugeboren in Locarno-Monti gewohnt hatte. Jedenfalls ist Soffel in den Zwanzigerjahren der Besitzer. Er hat das Haus 'Casa Francesco' getauft und an der Hauswand durch Alexander de Beauclair ein Graffito des heiligen Franz anbringen lassen, wie er den Vögeln und anderen Tieren predigt. - H. M.]