Ernst Fuhrmann

Ernst Fuhrmann als Fährmann

Vordenker für die Landkommune Grünhorst und ihre Freunde war, neben Gusto Gräser, der Biologe, Ethnologe, Fotograf, Dichter und Philosoph Ernst Fuhrmann (1886-1956). Zu seinen Anhängern zählten Max Schulze-Sölde, Artur Streiter, Franz Jung, Hugo Hertwig, Ernst Ostweg und auch Harro Schulze-Boysen, der später der nationalsoziaistischen Verfolgung zum Opfer fiel. Sie alle kreisten um Grünhorst.

Fuhrmanns Ideen waren maßgebend für die Zeitschriften ‚Der Gegner‘ und ‚Utopia‘. Ihre Verwandtschaft mit denen von Gusto Gräser ist offenkundig. Beider Namen erscheinen zusammen im Untertitel der Zeitschrift ‚Der Dom‘ von 1930, die von Max Schulze-Sölde herausgegeben wurde.

„Glauben Sie mir, daß kein Mensch die Philosophie der Menschen schreiben kann, wenn er nicht von der Philosophie der Not ausgeht, und von der Not kann er nicht ausgehen, ohne sie zu kennen, ohne diese kann er niemals den hohen Grad der Zwänge begreifen, die im Menschenleben eingeschlossen sind, und ohne diese Zwänge begreift man auch nicht, was eigentlich das Dasein vom Menschen will“.

So schreibt Fuhrmann am 3. Februar 1924 an Josef König (in Mierau, Fritz und Sieglinde (Hg.): Almanach für Einzelgänger. Hamburg 2000, S. 47). Die Worte könnten von Gusto Gräser stammen. Er wohnte in den Zwanzigerjahren zeitweise in Mühlhausen in Thüringen, wo auch Gräser sich aufhielt, und zwar wie dieser bei Bekannten. Zeitlebens hatte Fuhrmann keine eigene Wohnung. Dabei war eine zehnbändige Ausgabe seiner Schriften schon vor 1930 erschienen. Einen Spendenaufruf für den immer hilfsbedürftigen, nur seinem Werk verschriebenen Forscher unterzeichneten in diesem Jahr Rudolf Pannwitz, Leopold Ziegler, Theodor Däubler, Alfons Paquet, Emil Nolde, Alfred Döblin, Jean Sibelius und andere.

„Er war Leiter des Folkwang-Verlags, nach dessen Konkurs 1923 war er beteiligt an der Gründung des Auriga-Verlages in Darmstadt und Berlin, 1928 des Folkwang-Auriga-Verlags in Friedrichssegen/Lahn. Ab 1931 lieferte er regelmäßig Beiträge für die von Franz Jung und Harro Schulze-Boysen herausgegebene Zeitschrift „Der Gegner“. Er war beteiligt an der Zeitschrift Der Dom von 1930, in der Vertreter der Lebensreform (Gusto Gräser, Max Schulze-Sölde), der Jugendbewegung (Friedrich Muck-Lamberty, Karl Otto Paetel) und der Biosophischen Bewegung (Ernst Fuhrmann, Hugo Hertwig, Franz Jung) zusammenfanden. In seinem gleichnamigen Buch von 1932 hat er die naturmystischen Ideen dieser Vorläufer einer „grünen“ Bewegung näher ausgeführt.“ (Wikipedia, abgerufen am 3. 9. 2022).

Die Zeitschrift ‚Der Dom’ ebenso wie das gleichnamige Buch bezeugen das Bündnis zwischen Jugendbewegung und Biosophischer Bewegung aufgrund gemeinsamer ökologisch-pazifistisch-spiritueller Überzeugungen. Auszüge aus dem Buch von Fuhrmann:

Es ist jenes ungeheure Bedauern, den Wald verloren zu haben, aus dem Menschen die Dome gebaut haben. Niemals vorher und niemals nachher hatte der Mensch einen erschütternden, einen heiligen Raum gesehen. (3)

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Er mußte den Wald als einen Tempel der vergangenen Wirklichkeit hineinholen in sein Leben als die Relique des Verlorenen. Und so steht der Dom da. (4)

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Die ganze weite Erde, auch die Erde des Meeres, ist das Mütterliche. Dort im Mütterlichen beginnt das Wachsen. Und nur eben dieses, was Leben tragen kann, darf man als die große Mutter bezeichnen. (25)

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Sie ist die Mutter, die Wesen alle aber gehen zu Ende und haben den männlichen Weg, auch wenn sie Frauen sind. So steht der Mensch im Dom. Der Dom ist die größte Wirklichkeit der Menschen. Immer wieder und einzig dringt der Mensch in den Dom ein, um zu den Sakramenten seines Lebens zu kommen. (30)

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Fuhrmann meint eher einen geistigen Waldesdom als einen Kirchenbau. Im Untertitel seines Buches verspricht er eine „Synthese bis zu biologischer Religion oder religiösem Bios“. Seine Weltanschauung, die von den Fakten der Biologie ausgeht, nannte er „Biosophie“. In einer andeutenden Kurzfassung schreibt er:

„Welche biologischen Tatsachen haben sich im Laufe der Geschichte mit dem Menschen durchführen lassen? Es sind vorerst nur einige einzelne Antworten, die wir versuchen können.

  1. Der Mensch überwand die großen Raubtiere und nahm die Weidetiere unter seinen Schutz.

  2. Der Mensch überließ nicht die Vegetation ihrer freien Entwicklung, sondern er bestimmte einige wenige Pflanzen aus einer endlosen Vielheit zu einer ungeheuren Verbreitung als seine eigne Nahrung.

  3. Der Mensch hat sich über die Erde verstreut in ganz außerordentlich vielen Gruppen, die jeweils den Klimata und sonstigen Lebensbedingungen regionaler Art unterworfen waren. Was wir bis vor kurzer Zeit sahen, war eine Versprengung bis zur vollen Unkenntnis wechselseitiger Existenz.

  4. Der Mensch hat alsdann die Maschine entwickelt und sehr umfangreiche Teile mechanischen Tuns aus sich herausgestellt. Er ist daher relativ unmotorisch in seinem eignen Organismus geworden.

  5. Der Mensch hat die Verbindung zwischen all seinen isolierten Gruppen wieder herzustellen versucht und hat es für wichtig gehalten, daß jedes Erleben, Denken, Tun, jede Nahrung und Erfahrung aller Versprengten zum Eigentum der Gesamtheit werde.

Das sind Tatsachen im Naturgang, die kaum bestritten werden können.

Aus Ernst Fuhrmann:
Grundformen des Lebens. Hg. von Franz Jung. Heidelberg 1962, S. 20

Wir werden den biologischen Grundbegriff ganz einheitlich und so definieren, daß die Natur den Menschen nicht biologisch den Weg des geringsten Widerstandes gehen und in Verfall geraten läßt, sondern daß sie mit ihm einen sichtbaren Weg verfolgt und über künftige Zeiten weiterverfolgen wird, so daß er eben dieser biologischen Grundtendenz unverändert wird gehorchen müssen. Dieser Weg ist nun keineswegs heroisch schlechthin, sondern er ist geistig heroisch. Er läßt erkennen, daß die physischen Fähigkeiten degenerieren sollen zugunsten der Psyche, und diese Psyche wiederum zeigt ihre allereinfachste Entwicklung darin, daß alle denkbaren Volksgruppen auf getrennte Errungenschaften ausgeschickt wurden, dann aber soweit wieder vereint, zusammengekreuzt, überzeugt werden sollten, daß ein Einzelner durchaus die Erlebnisse der Vielen in sich bergen mußte“ (ebd., S. 21; Unterstreichung von mir; H. M.).

Fuhrmann denkt global, er will die zerstreuten Volksgruppen geistig zusammenführen. Er denkt streng von der Natur her und glaubt in ihr eine gesetzmäßige Entwicklung zum Geistigen hin zu erkennen. Dieses Entwicklungsziel hat Gräser poetisch-prophetisch als „kommenwollende Erdsternzeit“ verkündet.

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Zeitschrift von Jung/Fuhrmann/Boysen - Programm von Sölde - Gästebuch von Streiter

Titel von Gusto Gräser

In der Zeitschrift ‚Gegner’ schuf sich Fuhrmann „ein Sprachrohr für eine national, pazifistisch und ökologisch, in ihrer politischen Philosophie anarchistisch argumentierende Linke. Hier hatte sich der revolutionäre Teil der Jugendbewegung eingefunden … Eine nationale Revolution war das Ziel, in erster Linie aber der 'neue Menschentyp“, ein Gegenbild zur Kulturkritik, wie sie von Fuhrmann und anderen über ein Jahrzehnt lang vorgetragen worden war. Die Zeitschrift sah in den Faschisten ihren eigentlichen Gegner. 1933 wurde sie denn auch sofort verboten. Schulze-Boysen ging in den Untergrund“ (Gert Mattenklott in ‚Was die Erde will‘, S. 248f.).

Fuhrmann ging, wie Jung, Paetel und der geistesverwandte Ernst Friedrich, in die Emigration. Wie Gräser sah er sich sowohl als Forscher wie als Prophet. Über seine Betrachtung ‚Guru‘, die nach dem Ersten Weltkrieg erschien, schreibt sein Freund und Schüler Franz Jung:

„Unmittelbar [in die Zeit nach] nach Kriegsende fiel dann Fuhrmanns bedeutendstes Werk als Dichter. Es konzentriert sich auf die Person des Sehers, des Lehrers, der zu seinen Schülern spricht, des Künders von Erkenntnissen über das Wesen und die Geheimnisse der Natur, die Fuhrmann sichtbar werden läßt in der Urgeschichte der Menschheitskulturen, in den Sagen und Legenden, der Entstehung der Sprache bis zu den heutigen Formen der gesellschaftlichen Bindungen, dem Werdegang alles Lebenden schlechthin — noch ohne die Differenz zwischen dem Seienden und Scheinenden, dem Bleibenden und dem Zerfall. In diesem Lehrgedicht ist bereits der spätere Fuhrmann zu erkennen, es ist die Keimzelle biosophischen Denkens.

Fuhrmann sah Ideal und Vorbild im indischen Guru — dem Denkenden, der mit dem All eins ist, dem Lebenden in dem Leben ringsum, sichtbar gemacht in der Diktion der Propheten, dem Priester. Für den Guru bedeuten alle Erkenntnisse nichts, die einer sich erst mühsam erwerben muß, Objekte des Zweifels, dem Guru steht es nicht an, sich etwas anzueignen durch Lernen — er weiß es bereits aus dem Einswerden mit all dem Lebenden. Er ist weise, weil die Natur bereits von höchster Weisheit ist. Aber der Guru ist ohne Gefolgschaft, ohne den Kreis der mitdenkenden und mitwissenden Jünger nicht vorstellbar. Fuhrmann hat, um dies hier vorwegzunehmen, diese Schüler nicht gefunden, keine Mitdenkenden, sondern allenfalls Gefolgsleute, die ihm in Bewunderung und Verehrung ergeben gewesen sind. Fuhrmann ist in dem Bemühen, Werk und Existenz ins Gleichgewicht zu bringen, mit vollem Bewußtsein dieses unlöslichen Konfliktes gerade an dieser Art von Gefolgschaft gescheitert.

Man hat oft genug nicht nur von seinen Gegnern, auch von seiten seiner Freunde auf die vielen Widersprüche hingewiesen, die sich im Privatleben Ernst Fuhrmanns fänden, sein Verhalten vielen seiner Anhänger gegenüber, Gutmeinenden, die ihm hätten zu einem breiteren Wirkungskreis verhelfen wollen und die er nur allzu oft provokativ abgewiesen hat. Es ist keineswegs leicht gewesen, durch das oft sehr rauhe Klima seiner Atmosphäre zu ihm vorzudringen. Aber das sind die Widersprüche, die dem Menschen zu eigen sind, der keine Kompromisse gelten lassen wird, der Unrecht tut und lieber jedes Unrecht auf sich nehmen wird, um selbst die Möglichkeit eines Einlenkens für den mehr allgemeineren Gebrauch einer Idee oder Gedankenverknüpfung im Keim zu ersticken.“

Aus: Franz Jung, Erinnerung an einen Verschollenen. Ernst Fuhrmanns Lehre von den Zusammenhängen. In: Franz Jung, Schriften, Bd. 1, Salzhausen / Frankfurt am Main 1981

Ich frage,
Ob mich einer will als Folger,
Oder Verkünder, denn ich bin bereit
Mit lautem Geist zu rufen und wie sehr ich auch
Ein eigen Schicksal fordre und beginne,
So hat doch niemand Recht dem Meister
Die Jüngerschaft zu weigern.

Ernst Fuhrmann