Gusto's Vater

Carl Samuel Gräser

(13.6.1839 - 16.5.1894)


Karl Gräser, Senior: Studierte Jura in Heidelberg, beherrschte sehr gut die ungarischeSprache. Er ließ sich beim Gericht nieder. Als Jurist begann er mit seiner Praxis beim Standesgericht in Mediasch, später kam erzum Gericht in Kronstadt, schließlich beendete er seine Laufbahn als Präsident des Standesgerichts, wo er bis zu seinemfrühen Lebensende arbeitete.
Als Gattin nahm er die Tochter von Dr. Josef Pelzer: Charlotte, die von allen späterstets "Grossika" genannt wurde. Sie ist in Balassagyarmat (heute Ungarn) begraben worden.

Er starb jung, in seinem 54. Lebensjahr. Wurde neben seiner früh verstorbenenTochter Charlotte in Tekendorf begraben; beim Grab stehen Tannen Wache...

Aus der 1963 verfaßten Familienchronik 'Die Gräsers' von Dr.Ladislaus Thurzó Nagy, S.6       


Carl Samuel Gräser, wenige Monate vor seinem Tod. Ein asthmakranker, gebrochener Mann. Einzige erhaltene Aufnahme, 1893.




Hermann Hesse läßt in seiner Erzählung 'Freunde' von 1908 den Studiosus Heinrich Wirth über sein Leben berichten. Da Gräser für die Figur des Wirth Modell gestanden hat und die ganze Erzählung weitgehend biographisch fundiert ist, darf auch in dem, was Wirth über seine Eltern sagt, ein gewisser Grad von Lebenswirklichkeit vermutet werden. Läßt man einmal die bäuerliche Verkleidung beiseite, so enthält die Erzählung eine ganze Reihe von Zügen, die für Vater und Mutter Gräser nachweislich zutreffen.

"Ich bin ein Bauernsohn, wie Sie wohl schon gemerkt haben. Aber allerdings war mein Vater ein besonderer Bauer [ein besonderer Beamter]. Er hat einer bei uns verbreiteten Sekte angehört und sein ganzes Leben, soweit ich davon weiß, damit hingebracht, den Weg zu Gott und zu einem richtigen Leben zu suchen. Er war wohlhabend, fast reich und besorgte seine große Wirtschaft gut genug, daß sie trotz seiner Gutmütigkeit und Wohltätigkeit eher zu- als abnahm. Das war ihm aber nicht die Hauptsache. Viel wichtiger war ihm das, was er das geistliche Leben nannte. Das nahm ihn beinahe ganz in Anspruch. Er ging zwar regelmäßig in die Kirche, war aber mit dieser nicht einverstanden, sondern fand seine Erbauung bei Sektenbrüdern in Laienpredigt und Bibelauslegung. In seiner Stube hatte er eine ganze Reihe Bücher: kommentierte Bibeln, Betrachtungen über die Evangelien, eine Kirchengeschichte, eine Weltgeschichte und eine Menge erbaulicher, zum Teil mytischer Literatur. Böhme und Eckart kannte er nicht, aber die deutsche Theologie, einige Pietisten des XVII. Jahrhunderts, namentlich Arnold, und dann noch einiges von Swedenborg.

Es war beinahe ergreifend, wie er mit ein paar Glaubensbrüdern sich einen Weg durch die Bibel suchte, immer einem geahnten Licht nachspürend und immer im Gestrüpp irrgehend, und wie er mit zunehmendem Alter immer besser spürte, daß zwar sein Ziel das richtige, sein Weg aber der falsche sei. ... Schließlich starb er, noch ehe ich Student war, und es war ihm vielleicht besser, als wenn er es erlebt hätte, daß ich weder ein Reformator und Schriftausleger, noch auch nur ein richtiger Christ in seinem Sinn wurde. In einem etwas anderen Sinn bin ich es ja, aber er hätte das kaum verstanden.

Nach seinem Tod wurde der Hof verkauft. Die Mutter ... zog zu mir in die Stadt, hielt es aber kaum ein Jahr lang aus. Seither lebte sie daheim in unserem Dorf bei Verwandten, und ich besuche sie jedes Jahr für ein paar Wochen. Ihr Schmerz ist jetzt, daß ich kein Brotstudium treibe und daß sie keine Aussicht hat, mich bald als Pfarrer oder Doktor oder Professor zu sehen. Aber sie weiß noch vom Vater her, daß denen, die der Geist treibt, nicht mit Bitten und nicht mit Gründen zu helfen ist."

Hermann Hesse: Die Erzählungen I, S.346

In dieser dichterisch verfremdeten Darstellung steckt doch einiges, was entweder biographisch nachweisbar oder wenigstens als sehr wahrscheinlich anzunehmen ist. Daß Vater Gräser, als Sohn des Pfarrers Carl Samuel Graeser (1817-1858) und als Urenkel eines Bischofs theologische Literatur im Hause hatte, versteht sich von selbst. Daß er sich mit der kirchlichen Tradition auseinandersetzte, und zwar eher kritisch, ist ebenfalls naheliegend, sonst wäre er ja wohl nicht Jurist sondern Pfarrer geworden. Die Gutmütigkeit und Weichherzigkeit, von der Hesse spricht, ist nun durch das Tagebuch von Charlotte ausdrücklich bezeugt.

"Mein guter Mann, dem seine zu große Freundlichkeit und jedem Menschen das Beste wollend und ent-gegenbringend und so auch das gleiche fordernd [nur geschadet hat], hat hier in Teke gleich in Anfang fehlgeschlagen, und so hat er sowohl in als außer dem Amt sehr viele Unannehmlichkeiten durchgemacht, von denen bei seinem guten heiteren Temperament nur sehr wenig auf seine Familie wirkte."
Tagebuch von Charlotte Gräser, S.7

Das ist deutlich genug. Wir erkennen einen Menschen, der vielleicht von seiner Anlage her, aber eher noch von seiner frommen Pfarrhauserziehung her den Härten und Gemeinheiten des realen Existenzkampfes nicht gewachsen ist. Daß ein solcher Mensch zum schützenden Konventikel einer verinnerlichten Gemeinschaft seine Zuflucht nahm - oder aber von dort herkommend mit mystischer Frömmigkeit schlecht für das gesellschaftliche Überleben gerüstet war, ist recht wahrscheinlich und naheliegend. Die beruflichen Niederlagen und menschlichen Enttäuschungen waren offenbar so verletzend und kränkend, daß sie Vater Gräser erst jahrelange Krankheit - asthmatische Zustände -, dann einen frühen Tod brachten. Schon vier Jahre nach jenem Scheitern von 1890, über dessen Art das Tagebuch nichts Näheres aussagt, starb Carl Samuel Graeser, vierundfünfzigjährig.

Er starb an Asthma, an Atemnot. Das heißt doch wohl, daß er, der Gutmeinende und Wohlwollende, der mystisch Geöffnete, an den einengenden (siebenbürgischen) Umständen buchstäblich erstickte. Sein Großvater hatte gegen die Stickluft noch gewitzelt und gepoltert, für den zarteren Enkel war sie tödlich.

Gusto Gräser hat das langsame Dahinsiechen seines Vaters im empfindlichen Alter von zehn bis fünfzehn Jahren miterlebt. Sein späterer Ausbruch hat wohl auch damit zu tun, daß er nicht das selbe Schicksal erleiden, daß er den Tod des Vaters auf eine produktive Weise "rächen" wollte.

"Schließlich starb er, noch ehe ich Student war" - das trifft buchstäblich zu, und auch dies: "daß ich weder Reformator und Schriftausleger, noch auch nur ein richtiger Christ in seinem Sinn wurde. In einem etwas anderen Sinn bin ich es ja" (Erz. I,346).

"Nach seinem Tod wurde der Hof verkauft" (ebd.). Nach Carl Gräsers Tod wurde die Wohnung in Tekendorf aufgegeben, die Witwe zog nach Mediasch und lebte öfters "bei Verwandten", nämlich bei Tochter, Schwiegersohn und Enkeln. Sie zog auch zu ihrem Sohn nach Ascona, "hielt es aber kaum ein Jahr lang aus", nämlich von November 1906 bis September 1907. Und selbstverständlich ist es für Mutter Gräser ein Schmerz, "daß sie keine Aussicht hat, mich bald als Pfarrer oder Doktor oder Professor zu sehen ... statt so bei fremden Leuten ein ungewisses Leben zu führen". Fürwahr! Dieser Sohn führte das ungewisseste Leben, das man sich vorstellen kann, angewiesen auf die Freundlichkeit fremder Leute. - "Aber sie weiß noch vom Vater her, daß denen, die der Geist treibt, nicht mit Bitten und nicht mit Gründen zu helfen ist "(ebd, S.346).

Soviel jedenfalls ist sicher: dieser Vater war kein Tyrann, sein Sohn kein Opfer väterlicher Vergewaltigung. Gusto hat dankbar dieses nur durch Güte schwachen Mannes gedacht, der den verträumten Knaben verteidigte und ermutigte.

I war a rechtes Dummerlein, sie neckten mich den Petzen -
in jede Falle fiel ich rein, als Zucker nahm ich manchen Stein -
den Andern zum Ergetzen.
Fangsalz trug ich mit mir herum, mich lachten aus die Spatzen!
Wie wohl tat da dem kleinen Knot das Vaterwort in mancher Not:
"Der Knoten wird schon platzen".
Und fuhr dem traulich dumpen Knab der Tatter in die Knochen:
"Man beisst Dir nit die Nasen ab", hat Vater dann gesprochen.
Das sprang so frisch, so warm daher, voll ernstem Vaterscherze -
das übersprang die kalte Wehr, sprang wie ein Zicklein kreuz und quer
und sprang mir in das Herze.
Das Wörtlein wurde mir zum Stab, oft klingt es mir im Ohre:
"Man beisst Dir nit die Nasen ab!" -
Und durch gehts durch die Tore.

Im Vaterbild eines anderen Autors hat Gräser sein eigenes wiedergefunden. Er streicht an und unterstreicht (hier von mir gesperrt) bei dem französischen Schriftsteller Fournière die folgende Passage: "Unserem Vater gleichsam als Instinkt eignende Lauterkeit seines Wesens gab unsrem Hause ein unvergessliches Gepräge heiterer Harmonie, selbstverständlicher Ordnung und in sich ruhender Lebensbewegung." Und in der von Gräser hoch geschätzten 'Winteridylle' von Karl Stieler (er besaß das Büchlein in mehreren Exemplaren) scheinen ihn diese Verse besonders berührt zu haben:

O Vater, Vater! Warum bist du fort,
Eh' du's erlebt? Wie hätt' mein feurig Wort
Von Mann zu Mann dich noch gegrüßt so gerne!
Nun grüß' ich dich aus grenzenloser Ferne...
Was dank' ich Dir! - Das kommt erst spät zu Tage,
Doch dünkt mich Undank jedes Wort der Klage.

Die folgenden Zeilen hat Gräser rot unterstrichen:

Hast du genug nicht mir von dir gelassen?
Dies warme Herz, dies lauschende Erfassen:
Dein Erbe ist's, du nahmst mit dir hinüber
Nur deiner Augen, nicht der Seele Blick.
So ging ein Keim von tausendfachem Glück
Aus deinem Herbst in meinen Frühling über.


Noch mehr aber muß dem Rückblickenden bei den anschließenden Versen das Herz aufgegangen sein:

Der Mühen größtes Teil blieb freilich dein
Vorerst, mein teures, tapfres Mütterlein! ...
Du hast's vollbracht! Mit deinem klaren Blick
Hast du uns fest durch allen Sturm geleitet;
Was immer kam - dein Arm war ausgebreitet ...
Du warst so zart; wir haben's oft gemerkt,
Wenn du tief atmetest beim Abendkuß;
Doch hat die Seele dir den Leib gestärkt,
Denn man kann leben, wenn man leben muß!
Und über allem Schaffen, Sorgen, Schauen
Lag leuchtend warm dein endlos Gottvertrauen.








*