Lebensreform in Ungarn
 




 
Gusto Gräser verbrachte von 1894 bis 1897 prägende Jahre in Budapest. Die gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen in der Stadt können auf den Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen nicht ohne Einfluss geblieben sein. Mit einem Vordenker der dortigen Reformbewegungen, dem Philosophen Eugen Heinrich Schmitt, kam er später durch Freunde in Verbindung. Der Arzt und Tolstoianer Albert Skarvan, mit dem er sich 1900 in Monti sopra Locarno befreundete, dürfte ein Schüler von Schmitt gewesen sein. Er verweigerte den Militärdienst, kam ins Gefängnis und wurde ein Mitarbeiter von Tolstoi. Er übersetzte dessen Schriften, darunter dessen letztes Werk, das 2010 erstmals in Deutsch aufgelegte „Lebensbuch“
Für alle Tage. Albert Skarvan muss für Gräsers Militärdienstverweigerung von 1901 ein ermutigendes Vorbild gewesen sein.
 

Auszüge aus dem Aufsatz von András Németh in der Reihe:
NOVALIS, herausgegeben von Béla Pukánszky und András Németh
Verlag Gondolat Kiadó, Budapest, 2014, ISBN 978 963 693 545 0

Lebensreform, Reformpädagogik und Lehrerberuf


Lebensreform im engeren Sinne bezieht sich auf diese Art von
Reformbewegungen. Ihr gemeinsamer Charakterzug
war das Bemühen, die existenziellen Veränderungen,
die im Interesse der Zukunft der Gesellschaft erwünscht
waren, mit der Hilfe der „Rückkehr zur Natur“ und
der „gesunden Lebensweise“, mit der Reform der individuellen
Lebensführung, der Ernährung, der Wohnumgebung,
der Erhaltung der Gesundheit erreichen zu
wollen. Mit dem Begriff „Lebensreformbewegung“ bezeichnen
wir also in erster Linie den komplexen Zusammenhang
der in sich bunten Gesamtheit der verschiedenen
Reformbewegungen (Gartenstadt-, Bodenreform-,
Antialkoholiker-, ferner Vegetarier-, Naturheilkunde-,
Körperkultur-Bewegung), die die zivilisationskritische
Parole „Flucht aus der Stadt“ – und damit eine neue
Beziehung zwischen Mensch und Mitmensch, Mensch
und Natur, Mensch und Arbeit, Mensch und Gott – auf
ihre Flagge geschrieben haben. (Krabbe 2001, 25.) Nach
Wolbert kann man die Bedeutung dieser Bewegungen in
Folgendem zusammenfassen: „Die Lebensreform ist das
konzertierte innovatorische Epochenphänomen um 1900
schlechthin, und in ihr wurden Themen und Probleme
angesprochen, die ihre Brisanz bis heute nicht verloren
haben.“ (Wolbert 2001, S. 20).

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John Lukács beschreibt in seinem Werk „Budapest 1900“ die
Lage wie folgt: „Budapest wendet sich im Jahre 1900 von
den Gewohnheiten, der Denkweise, den Höflichkeitsformen,
ja sogar dem Sprechstil des 19. Jahrhunderts ab,
dieser Prozess geht viel schneller vor sich als in Wien.
(...) Budapest erlebt im Jahre 1900 seine Glanzzeit. Der
wirtschaftliche Aufschwung kommt durch Zufall gerade
in jenem Jahr zu seinem Höhepunkt, als auch das Kulturleben
seine Glanzzeit erlebte. (...) Eine neue Generation
von Frauen und Männern übernahm die Stelle ihrer Vorgänger
und Vorgängerinnen. Ein großer Teil der Farben,
Stimmen und Worte – die Atmosphäre, die Sprache ist
die Musik von Budapest – verändern sich endgültig.“
(Lukács 1999, S. 35–36.)

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Eine der wichtigsten Werkstätten der neuen Bestrebungen,
die sich um die Jahrhundertwende in Budapest
entfalteten, waren die Stilistikseminare des beliebten
Linguisten der Budapester Universität, Professor Lász
Négyesy. Ein fleißiger Besucher dieser Seminare, der
später bekannte Schriftsteller-Dichter Dezső Kosztolányi
beschreibt die eigentümliche Atmosphäre dieser Veranstaltungen:
Es kamen Männer von Welt im Zylinder,
mit Spazierstöcken aus Elfenbein, Schöngeister in der Begleitung
von ‚dreist gekleideten‘ Mädchen, Tolstoianer,
die einen Jesusbart und nach hinten gekämmtes Haar
trugen, und aus deren Jesuslatschen nackte Zehen hervorschauten,
Sozialisten mit roten Tüchern um den Hals,
für die die Marseillaise noch ein Lied der Revolution ist,
sanfte Vegetarier und Theosophen, die am Abend im
Café Akadémia Jenő Schmitt zuhörten, finstere und geheimnisvolle
Materialisten, die eine englische Pfeife rauchen
und den Namen von Herbert Spencer in düsteren
Korridoren aussprechen, als wäre er ein weltumwerfendes
Kennwort.“ (Kosztolányi 1977, 38–39.) Die treffenden
Worte von Kosztolányi beschreiben die wichtigsten
Strömungen der ungarischen Lebensreformbestrebungen.

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Unter den Besuchern des schon erwähnten Seminars
waren auch jene, die, wie Kosztolányi es beschrieb, „am
Abend im Café Akadémia Jenő Schmitt zuhörten“. Im
letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erschien der bedeutende
Lebensreformprophet der tolstoianischen intellektuellen
Anarchiebewegung, Jenő Henrik Schmitt (1851–1916).
Der Neugnostizismus von Schmitt, dessen

Lehre in den verschiedensten gesellschaftlichen Kreisen
auf Anhänger stieß – von den Repräsentanten der ungarischen
wissenschaftlich-künstlerischen Revolution bis zu
den agrarsozialistischen Bewegungen in den Dörfern –,
versuchte eine Verbindung zwischen den religiösen Reformbewegungen
jener Zeit und der Welt der Sekten in
den Dörfern herzustellen. Er war, nach der Auffassung
von Tolstoi, gegen jede Art von Gewalt und bestritt die
Existenzberechtigung des Staates als die grundlegende
Organisation gesellschaftlicher Gewalt. Im Jahre 1894
gründet er in Jena die Zeitschrift Die Religion des Geistes,
in der mehrere Schriften von Tolstoi erscheinen. Gegenseitiger
Respekt charakterisiert die Beziehung zwischen
dem russischen Denker und Schmitt. Sie akzeptierten
sich gegenseitig als gleichberechtigte Denker und beein
flussten sich gegenseitig. (Szabó 1977, S. 32)

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Der Gnostizismus von Schmitt, sowie die Anschauungsweise
der Theosophie und der Anthroposophie
üben einen starken Einfluss auf das geistige Gesicht
des ungarischen „Monte Verità“, die Künstlerkolonie in
Gödöllö, aus. Sie gehören in Kosztolányis „Terminologie“
auf der geistigen Palette der Jahrhundertwende zu
den „Tolstoianern, die einen Jesusbart und nach hinten
gekämmte Haare tragen, aus ihren Jesuslatschen schauen
ihre nackten Zehen heraus, (...) sie sind zahme Pflanzenfresser
und Theosophen“.
Die Künstler zogen 1901 in die Kommune in der kleinen Stadt nahe Budapest. Solche Künstlersiedlungen und Lebensreformkommunen
entstanden in ganz Europa nach dem Muster der englischen
Präraffaeliten.