„Die Erwerbslosen meiner Gruppe siedle ich zur Zeit an. ... In Frohnau (zwischen Berlin und Oranienburg) wurden Parzellen gekauft. ... Organische Lebensauffassung bricht sich Bahn! Das bedeuet: ... Reaktivierng des Einzelnen, Verzicht auf Kino und Ballsaal, auf Stehkragen und Zylinderhut, Zug zum Lande ... hier ist Pionierarbeit.“

Berlin, 7. 12. 30    Harro Schulze-Boysen

Öffentliche Gesprache, kontradiktorische Aussprachen

Norman Ohler über Harro Schulze-Boysen

„Am Mittwoch, den 26. April 1933, ist es in der deutschen Hauptstadt bei 16 Grad woikenlos, ein wunderbarer Frühlingstag. Seit knapp drei Monaten ist Hitler Reichskanzier und der 23-jahrige Harro Schulze-Boysen hat den Gegner noch immer nicht zugemacht, seine unabhangige Publikation, die zu Zeiten der Weimarer Republik mit über 5000 Abonnenten florierte und deren junger Chefredakteur er ist. Gegner von heute - Kampfgenossen von morgen, lautete das Motto der vom Expressionismus beeinflussten Zweimonatsschrift. Im Gegner schreiben Autoren aus den unter-schiedlichsten Lagern, gerade so, als gabe es die von den Nazis eingeführte Presse-zensur nicht. Der auf Dialog setzende, zutiefst humanistische Ansatz der Publikation lautet, dass alle gesellschaftlichen Probleme durch das Herausfinden von Gemein-samkeiten selbst zwischen den unterschiedlichsten Standpunkten losbar sind." (Ohler 22)

So knapp und konzentriert beginnt Normann Ohler seinen Bericht über das kurze Leben des Widerstandskampfers Harro Schulze-Boysen und dessen Frau Libertas. Er stellt ihn vor als den Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift 'Gegner', stellt heraus, dass das Finden von Gemeinsamkeit durch offenen Dialog das Ziel dieses Blattes sei, verrat uns aber nichts Naheres über dieses unabhangige Organ einer unabhangigen Gruppe. Wer war der 'Gegner'? Und Gegner wessen? Wo kam er her?

Es gab ihn schon 1919, unter dem Namen 'Der Gegner' begründet von Julian Gumperz und Karl Otten, wurde 1924 im Malik-Verlag fortgeführt von Wieland Herzfelde und Franz Jung. Die beiden Hauptbeteiligten, Otten und Jung, waren Schüler des Psychiaters Otto Gross, der ab 1906 in Schwabing und auf dem Monte Verità von Ascona junge Künstler und

Sozialrebellen um sich scharte. Erich Mühsam gehorte dazu und Leonhard Frank, auch Oskar Maria Graf und eben Karl Otten und Franz Jung, die alle, früher oder spater, sich dem Kriegsdienst entzogen oder ihn von vornherein verweigerten. Diese Gruppe pflegte, wie Jung erzahlt, schon vor dem Krieg Militardienstverweigerer nach Ascona zu schleusen, wo sie bei den Brüdern Karl und Gusto Graser Unterschlupf fanden. Dieser Anti-Wilhelm-Koalition schlossen sich wahrend des Krieges, der Gesinnung nach, auch Ernst Bloch und Hermann Hesse an, denen der bekennende Verweigerer Gusto Graser leitendes Vorbild war. Aus diesem Fundus also speiste sich die Zeitschrift 'Der Gegner'. Aus einer kleinen widerstandigen Gruppe von Literaten, die sowohl von Gross wie von Graser her die Beziehung und den Dialog, besser: das Gesprach zur Grundform ihres offentlichen Wirkens machten. ,Offentliche Gesprache" nnante Gusto Graser seine seine Einladungen, in denen alle Redewlligen zu Wort kommen sollten und auch kamen. „Zur Einheit durch den Streit" lautete seine Losung, die auch Schulze-Boysen übernahm.

Kein Programm zu haben sei das Programm des ,Gegner', schrieb in der dritten Nummer der Biologe Hugo Hertwig. Franz Jung hatte 1931 die Zeitschrift neu begründete. So Dieser Hugo Hertwig war, wie auch Jung und Max Schulze-Solde, ein Schüler des Dichters, Philosophen und Biosophen Ernst Fuhrmann, dem ehemaligen Leiter des Folkwang-Museums. Sein Begriff „Biosophie" ware heute mit „Tiefenokologie" wiederzugeben; der Universalgelehrte Fuhrmann war ein früher Pionier des okologischen Denkens. Im Spatherbst 1929 hatte er zu einer „Biosophischen Tagung" eingeladen, die dann eine christlich-sozial ausgerichtete Fortsetzung fand in der „Religiosen Woche" des Malers Max Schulze-Solde an Ostern 1930 in Hildburghausen. Jetzt mit dem Ziel einer Sammlung aller Freireligiosen angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus. Einigung der unterschiedlichsten Richtungen - ob deutschristlich, nordisch, theosophisch, anthroposophisch, christlich-sozial, katholisch, graserisch oder kommunistisch - im offenen Dialog.

Das war auch hier das Ziel und der Stil. Mitbeteiligt der Kreis um Gusto Graser mit Friedrich Muck-Lamberty, Henri Joseph, Karl-Otto Paetel und anderen, die kurz darauf, namlich ab Januar 1931 mit der Landkommune Grünhorst bei Berlin sich ein eigenes Zentrum schufen, das zum Treffpunkt der Wandervogel und der Lebensreformer wurde. Und eben auch des Gegner-Kreises. In der kurzlebigen Zeitschrift 'Der Dom', die aus der „Religiosen Woche" von Hildburghausen hervorging, stehen die Namen von Gusto Graser und seiner Freunde Muck-Lamberty und Henri Joseph Seite an Seite mit denen von Ernst Fuhrmann, Hugo Hertwig und Karl-Otto Paetel. Hertwig und Fuhrmann aber waren haufige Mitarbeiter des 'Gegner', schon vor der Zeit von Schulze-Boysen. Dessen Vorliebe für das offentliche Gesprach fiel also nicht etwa vom Himmel, sondern leitete sich her aus einer Tradition, die Graser und Gross in Ascona begründet hatten. Es ist kein Zufall sondern bewusste Steuerung und

Gestaltung, dass Graser seine offentlichen Reden nie als Reden oder Vortrage ankündigte sondern als „Offentliche Gesprache". In denen sollte jeder zu Wort kommen. Graser selbst führte sich nicht als Redner ein sondern als „Gesprachsführer", sprich: Moderator.

Dialogische Beziehungsarbeit war auch das Grundmodell des Psychiaters Otto Gross gewesen, wie sein Biograph Gottfried Heuer herausgearbeitet hat. Abseits von Parteien und anderen Institutionen durch die freie, interesselose Aussprache Gemeinsamkeit herzustellen und damit das in Parteiungen zerrissene deutsche Volk wieder zusammenzuführen, war das gemeinsame Ziel sowohl der sozialistisch bis anarchistisch gerichteten Linie von Gross und seiner Schüler (die an den Revolutionen von 1918/19 maBgeblich beteiligt waren) wie der Freunde von Gusto Graser, die als „Christ-Revolutionare", „Vagabunden-Bewegung", „Gandhi-Bewegung" oder „Christ-Sozialisten" eine eher religiose und lebensreformerische Richtung einschlugen. Bei aller Offenheit war also die Gruppe um den 'Gegner' nicht ohne eigenen ideologischen Hintergrund, der summarisch als sozial, okologisch und pazifistisch zu beschreiben ist. Ihr dialogisches Vorgehen nahm die Theorien von Habermas in der Praxis vorweg. Politisch suchten sie den „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

Ohler schreibt: „Das Vehikel für Harros Engagement, der Gegner, hat unter seiner Chefredaktion in diesem Jahr 1932 ein neuartiges Konzept entwickelt, um von einer statischen Publikation zu einer tatsachlichen Bewegung zu wachsen: Es finden sogenannte Gegner-Treffen statt, bei denen Autoren und Leser ins Gespräch kommen: ’öffentliche kontra-diktorische Aussprache-Abende’, wie es im Blatt dazu heisst. Selbstbewusst schreibt Harro seinen Eltern von diesem Ansatz: ’Es gibt keine Zeitung in Deutschland, die in so unabhängiger Weise Menschen, die etwas zu sagen haben, heranholt.’ Visionen jenseits der Parteigrenzen entwickeln, Konventionen überwinden und frische Argumente testen: Das spricht viele an. Vor allem junge Leute, die nach Antworten suchen auf die brennenden Fragen, die alle so heftig bewegen, nehmen an Gegner-Abenden im Café Adler am Donhoffplatz teil. ... Auch wenn der Weg zum Ziel noch unklar ist, schreibt Harro der Gegner-Bewegung ein rebellisches Moment zu und spricht von einem ’unsichtbaren Bund von Tausenden’ ... Harro will die Gesellschaft, die auseinanderzureiBen droht, aussohnen." (Ohler 45f.)

Die Folgen sind bekannt. „An diesem 6. April [1933]", so fahrt Ohler in seiner Erzahlung fort, „ordnet Hermann Goring, die Nummer zwei im Hitler-Reich, die Bildung eines Geheimen Staatspolizeiamtes an. Am selben Tag treffen sich die Freigeister des Gegner zu ihrer wöchentlchen Redaktionskonferenz, um die Rolle der Kirche im neuen, sich mit ungeheurer Geschwindigkeit entwickelnden NS-Staat zu diskutieren, als es laut an die Eingangstür der Schellingstrasse 1 in der Nähe des Potsdamer Platzes pocht." (Ohler 22)

Harro und seine Mitarbeiter werden verhaftet. Er wird gefoltert, ausgepeitscht, sein Freund Henry Erlanger wird zu Tode geprügelt. Damit beginnt sein Untergrundkampf gegen Hitler.

Nach seiner Entlassung, durch die Torturen an seinen Nieren schwer geschadigt, schlüpft Boysen unter die Maske eines Wehrmachtsoffiziers und schreibt heimlich in dem ebenso maskenhaften Blatt 'Wille zum Reich', das Erich Roth (Gräsers einziger Verleger) herausgibt und in aller Stille zu einem Organ des Widerstands macht. Auch Roth wird nach einiger Zeit enttarnt und wegen „Hochverrats" vor den Volksgerichtshof gestellt. Nur „durch Versehen" entgeht er seiner Hinrichtung.

Der Kreis um Schulze-Boysen und seine Frau Libertas wurde 1942 ausgeloscht. Mehr als 50 Menschen fielen dem Henker zum Opfer. Die Morder hatten ein Interesse daran, die Hingerichteten als „Vaterlandsverräter" und angebliche „Rote Kapelle" zu diffamieren. Eine Lügengeschichte, die lange geglaubt wurde. „Ich bin kein Kommunist" hatte Boysen an seine Eltern geschrieben. "Partei des Lebens" nannte Boysen die um ihn entstehende Gemeinschaft, anknüpfend an den „élan vital" der Lebensreformer. Nicht eine politische Bindung sondern eine zutiefst demokratische und humane Haltung hat ihn zum Widerstand motiviert.

Norman Ohler: Harro & Libertas. Kôln 2019 arro Schulze-Boysen